
Herr Dr. Pfahler, die Schweiz hat im Jahr 2012 das DRG-System eingeführt. Während in Deutschland jedoch die Abrechnungsprüfung des MDK zu immer heftigeren Verstimmungen zwischen Kliniken und Kassen führt, läuft der Prüfprozess bei den Eidgenossen relativ geräuschlos. Was machen die Schweizer anders?
Generell lässt sich sagen, dass die Schweizer bei der Prüfpraxis eine ganz eigene Philosophie haben. Die beiden wesentlichen Teile dieser Philosophie sind der Wille zum Konsens und die Regel, über Konflikte fallweise zu entscheiden. Mit anderen Worten: Das Schweizer Krankenversicherungsgesetz inklusive aller Verordnungen ist im Vergleich zum deutschen Sozialgesetzbuch deutlich überschaubarer, weil man nicht jeden Sachverhalt einzeln in einem Gesetz regeln will, sondern sie werden fallweise vor Gericht entschieden.
In Deutschland führt ein Mangel an gesetzlichen Regulierungen sofort zu einer Prozesslawine.
Der Schweizer Ansatz hat Vor- und Nachteile. Die Gesetze sind überschaubarer, allerdings haben die Parteien auch den Nachteil, dass man nicht unbedingt weiß, wie man aus dem Gerichtssaal herauskommt. Während in Deutschland gern und schnell vor das Sozialgericht gezogen wird, empfinden es Schweizer grundsätzlich als Niederlage, vor Gericht zu gehen. Ein offener Disput vor Gericht gilt im Prinzip als Eingeständnis des eigenen Versagens. Deswegen versucht man, alles möglichst im gegenseitigen Einvernehmen zu regeln. Das klappt auch hier mit den Krankenversicherern nicht immer und ist teilweise sehr schwierig. Dennoch bleibt die Suche nach dem Konsens das oberste Prinzip im Konfliktfall.
Wie hoch ist die Prüfquote in der Schweiz?
Das ist für mich schwierig zu beziffern. Zunächst gibt es für einen bestimmten Prozentsatz aller Fälle Anfragen der Kostenträger, also der Kassen und der Kantone. Im vergangenen Jahr haben wir als Insel Gruppe bei rund 60.000 Abrechnungsfällen 4.800 Fälle gehabt, die angefragt worden sind, also rund acht Prozent. Das heißt aber für uns grundsätzlich noch gar nichts.
Was meinen Sie damit?
Von den 4800 angefragten Fällen sind insgesamt ungefähr 1100 Fälle beanstandet worden, also ca. 1,8 Prozent. Korrekturen im Sinne der Krankenkasse gab es jedoch nur in rund 250 Fällen. Sie sehen, wir bewegen uns da wirklich im Promillebereich.
Wird in der Schweiz besser kodiert oder nur einfach lascher geprüft?
Wir gehen mit der Kodierung grundsätzlich anders um als in Deutschland. Unsere Kodier-Philosophie ist: Die Kodierung muss revisionssicher sein. In Deutschland wird von Kollegen – so sagte man mir – offenbar recht großzügig kodiert. Dann wird gehofft, dass das durchgeht. Wir kodieren immer so, dass wir hinter dieser Kodierung stehen und diese im Zweifelsfall auch verteidigen können.
In Deutschland würde das scharfen Protest der Medizin-Controller in den Kliniken provozieren. Die sagen, ein Upcoding finde nur bei wenigen „schwarzen Schafen“ statt.
Ich will mich nicht in die deutsche Debatte einmischen. Klar ist für mich aber: Wenn ich eine klinische Dokumentation habe, aus denen sich diese CHOP-Prozeduren − so heißen sie bei uns in der Schweiz − zweifelsfrei ableiten lassen, kann die Krankenkasse sie auch nicht mehr anzweifeln. Letztendlich sind wir als Krankenhaus in der Bringschuld, eine saubere Dokumentation zu bringen.
Was wird von den Schweizer Kassen bei den Prüfungen am häufigsten moniert?
Den Großteil stellen im Moment bei uns immer noch Diagnosen und Prozeduren dar. Primäre Fehlbelegung macht derzeit noch rund ein Viertel aus, wird aber sicherlich steigen, weil es jetzt auch in der Schweiz eine Initiative Ambulant vor Stationär gibt.
Das Schweizer Pendant zum deutschen MDK ist der Vertrauensarzt. Ist dieser unabhängig?
Nein, ist er nicht. Der Vertrauensarzt ist entweder direkt bei den Kassen angestellt oder arbeitet für Firmen, die im Auftrag der Kasse die Abrechnungen prüfen.
Das klingt nicht weniger konfliktträchtig als das deutsche System.
Die Rolle des Vertrauensarztes ist recht ambivalent. Es gibt Vertrauensärzte, mit denen der Umgang schwierig ist. Generell nehmen auch hier die Konflikte zu. So ist bei uns die Zahl der Einsprüche seit 2012 um das Sechsfache gestiegen.
Wie läuft üblicherweise der Konflikt mit dem Kostenträger?
Wenn die Kasse einen Fall beanstandet, erstellen wir ein Gegengutachten. Das kann natürlich schon auch ganz gerne mal ein bisschen hin und her gehen. Bei Kodierstreitigkeiten haben wir mit dem Bundesamt für Statistik (BfS) auch eine Schlichtungsstelle. Das Urteil des BfS ist zwar nicht rechtsgültig, aber verhältnismäßig bindend.
Wie lange kann sich so ein Streitfall hinziehen?
Teilweise dauert es lange, aber wir stehen unter einem gewissen Druck. Während in Deutschland der nicht strittige Betrag überwiesen wird, bleibt bei uns der gesamte Betrag ausstehend.
Eine Schweizer Besonderheit, die in Deutschland als Mittel zur Reform der MDK-Prüfung diskutiert wird, ist die Stichprobenprüfung.
Richtig, die sogenannte Kodierrevision ist in dieser Form tatsächlich einzigartig. Es handelt sich um eine zweite Stufe des Prüfverfahrens und ist für jedes Krankenhaus verpflichtend. Danach kommt einmal im Jahr eine externe Firma ins Haus, nimmt sich je nach Größe des Hauses 100-300 Fälle und kodiert diese nach. Grundsätzlich soll diese Firma nicht am Abrechnungsprozess beteiligt sein, sollte also nicht mit den Kostenträgern verbandelt sein. Das alles findet wie eine Wirtschaftsprüfung statt, am Schluss zeigt sich, ob ein Spital korrekt kodiert hat. Die Stichprobe sagt also etwas über die Kodier- und Abrechnungs-qualität im Haus aus.
Welche Konsequenzen hat denn die Stichprobe? Gibt es in einem Haus mit guter Kodierqualität weniger Einfallprüfungen?
Nein, denn unglücklicherweise ist der Prüfprozess der Kassen davon entkoppelt. Wir hatten bei 300 geprüften Fällen im vergangenen Jahr einen Fall, der korrigiert werden musste. Angesichts dieser geringen Fehlerquote würde ich mir einfach wünschen, dass die Kassen weniger Einzelfallprüfungen durchführen. Das passiert aber nicht.
In das Stichprobenverfahren aus Kliniksicht dann nicht überflüssig?
Grundsätzlich bin ich ein Freund der Stichprobe. Ich finde die Idee einer übergeordneten Prüfung und nicht einer ständigen Einzelfallprüfung gut. Allerdings müsste es anders geregelt werden. Wenn eine Stichprobe ergibt, dass ein Haus die Qualitätskriterien erfüllt, sollten z.B. maximal fünf Prozent der Fälle durch Kassen geprüft werden dürfen. Das würde den administrativen Mehraufwand in den Häusern massiv begrenzen. Gleichzeitig würde ein verpflichtende Stichprobe verhindern, dass Krankenhäuser bei ihrer Upcoding-Strategie unentdeckt bleiben. Wenn es bei der Stichprobe Anhaltspunkte für Upcoding gibt, sollten die Kassen jeden Verdachtsfall prüfen dürfen. Häuser, die sauber arbeiten, würden hingegen belohnt.
Sie sind Deutscher und kennen beide Gesundheitssysteme. Wie könnte aus Ihrer Sicht das deutsche Prüfsystem reformiert werden?
Hach, das ist ein bisschen wie die Frage, wie würden Sie mit dem Weltfrieden beginnen. Die deutsche Streitkultur und Regulierungswut ist einfach schon sehr ausgeprägt. Ich glaube, das gegenseitige Aufrüsten der Konfliktparteien bringt volkswirtschaftlich gesehen dem Gesundheitssystem gar nichts, es schafft nur Unfrieden und administrative Arbeitsplätze. Ich denke, mit einer Konsenskultur würde man auch viel mehr Effizienz im System erzeugen, weil man sich nicht wegen jeder Kleinigkeit sofort in den Haaren hat.
Zur Person
Dr. Henrik Pfahler ist Bereichsleiter Medizinsteuerung für die Insel Gruppe AG. Zur Inselgruppe gehören das Inselspital, Universitätsspital Bern sowie fünf weitere Spitäler im Kanton Bern, die im Januar 2016 zum „größten medizinischen Vollversorgungssystem der Schweiz“ fusioniert sind. Henrik Pfahler hat an der Christian-Albrechts-Universität Kiel Humanmedizin studiert und später an der Universität St. Gallen zudem ein Wirtschaftsstudium (Executive MBA) abgeschlossen. Zum 1. Oktober wechselt der Klinikmanager an das Unispital Basel.
Dieser Artikel ist Teil der aktuellen Ausgabe von kma Klinik Management aktuell.





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