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Studie zu freiheitsentziehenden MaßnahmenBettengitter und Fixiergurte in Kliniken – Muss das sein?

Sie greifen tief in die Freiheitsrechte der Patienten ein und sind doch Alltag in deutschen Krankenhäusern: freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM). Eine Studie der Universitätsmedizin Halle untersucht jetzt Wege, wie sie künftig öfter vermieden werden könnten.

Eine Infusion, im Hintergrund ist verschwommen ein Patient zu sehen
AdobeStock/siraphol
Symbolfoto

Bettengitter, Fixiergurte oder Stecktische an Rollstühlen – freiheitsentziehende Maßnahmen, kurz FEM, gehören in vielen Krankenhäusern zum Standardprozedere. „In der Regel mit ‚guter‘ Absicht“, sagt Dr. Jens Abraham vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Universitätsmedizin Halle. Doch die Haller Wissenschaftler stellen ihren Nutzen infrage. Zwar sollen die Maßnahmen hauptsächlich folgenreiche Unfälle vermeiden, doch teilweise würden sie diese sogar eher begünstigen, erklärt Abraham. Das zeige etwa das Beispiel der Bettgitter, die häufigste FEM-Maßnahme.

„Man glaubt, damit Stürze zu verhindern, doch dass diese Maßnahme wirksam und sicher ist, erscheint aus wissenschaftlicher Sicht sehr unwahrscheinlich“, sagt Abraham. Tatsächlich ereigneten sich nicht mehr Stürze, wenn ein Bettgitter weggelassen wird und andere Maßnahmen ergriffen werden. „Tendenziell passieren sogar schwerere Unfälle, weil beispielsweise Patienten über das Bettgitter klettern und damit aus größerer Höhe fallen“, betont Abraham. Von solchen Fällen oder eingeklemmten Patienten könne nahezu jede Pflegekraft berichten.

Gefragt sind alternative Strategien und neue Abläufe

Die Studie „PROTECT“, die der gelernte Gesundheits- und Krankenpfleger leitet, soll das jetzt evidenzbasiert belegen und dafür sorgen, dass FEM in Krankenhäusern künftig deutlich reduziert werden. Gefragt sind alternative Abläufe und Strategien, die FEM unnötig machen – und trotzdem verhindern, dass Patienten im Krankenhaus aus dem Bett fallen, sich ohne Hilfe fortbewegen oder sich verletzen.

Solche Alternativen können zum Beispiel Sturzmatten, Mobilitätshilfen oder Niedrigbetten sein. Große Effekte versprechen sich die Wissenschaftler aber auch von veränderten Abläufen: „Eine Möglichkeit sind reduzierte nächtliche Kontrollgänge bei ausgeschaltetem Licht, um das Aufwachen und damit eine mögliche Desorientierung von Patienten zu verringern“, sagt Abraham.

Die Haltung von Pflegekräften und Ärzten ist entscheidend

Im Stationsalltag hänge viel von der Haltung der Pflegekräfte und Ärzte sowie der Einrichtungskultur ab, sagt Abraham im Gespräch mit kma. Häufig werde der FEM-Einsatz zu unkritisch gesehen und zu wenig hinterfragt. Dabei machten viele Stationen bereits gute Erfahrungen mit alternativen Ansätzen – „scheinbar ist eine Versorgung ohne FEM möglich“, betont Abraham. Was zunächst aufwendig klinge, reduziere an anderer Stelle Aufwand, etwa weil der FEM-Einsatz auch engmaschige Kontrolle der jeweiligen Patienten bedeute. „Manchmal reicht es schon, einfach in der Alltagsroutine Dinge zu verändern“, betont Abraham, „etwa Flexülen schneller zu entfernen, die Patienten häufig beunruhigen“.

Ältere Patienten – andere Behandlung

Grundsätzlich müssten sich Kliniken noch stärker bewusst machen, dass sie künftig mit immer mehr älteren Patienten zu tun haben werden und das Thema Demenz eine immer größere Rolle spielen werde. „Die Betroffenen müssen im gesamten Krankenhausablauf anders behandelt werden“, mahnt Abraham. Damit rücke auch das FEM-Thema zunehmend in den Fokus. Nicht nur, dass die Maßnahmen tief in die Freiheitsrechte eingreifen, auch die Herausforderungen für ihren Genehmigungsprozess wachsen.

In der Psychiatrie etwa muss bereits innerhalb einer halben Stunde ein Richter eingeschaltet werden – und die Betreuungsgerichte sind schon jetzt teilweise überlastet. In Krankenhäusern gilt bislang noch eine Zeitspanne von 24 Stunden bis zu drei Tagen, in der FEM bei nicht einwilligungsfähigen Patienten ohne richterliche Genehmigung möglich sind. „Je weniger eine Klinik FEM einsetzt, desto weniger muss sie sich um diesen Verfahrensprozess kümmern“, erklärt Abraham.

Bis zu zehn Prozent der Patienten sind betroffen

Die Wissenschaftler, die bereits regelmäßig Pflegekräfte schulen, gehen davon aus, dass FEM in Akutkrankenhäusern bei rund zehn Prozent der Patienten angewandt werden. Dabei variiere der Einsatz je nach Fachgebiet stark und liege zwischen null und 30 Prozent, so Abraham. Auf Intensivstationen seien vor allem im Zusammenhang mit Beatmung oder dem Aufwachen bis zu 90 Prozent der Patienten betroffen. Grundsätzlich geht es meist um ältere Patienten mit Demenz, Patienten, die ihre Situation nach einer OP nicht richtig einschätzen können, ein Delir entwickeln und verwirrt sind, so dass sie aufstehen und stürzen oder sich Infusionen herausziehen.

FEM-Einsatz als Qualitätsmerkmal

Bei der Dokumentation der Maßnahmen sieht Abraham noch große Lücken. „Sie werden weniger dokumentiert als sie vorkommen“, ist er überzeugt. Ändern könne sich das zum Beispiel, wenn der Einsatz auch für das Controlling zur wichtigen Kennzahl und zum Qualitätsmerkmal einer Klinik werde. Damit wachse auch das Problembewusstsein auf den Stationen, sagt Abraham. Hinzu komme, dass sich Pflegende und ärztliches Personal im Klaren sein müssten, was Freiheitsentzug bedeute „und dass dies auch eine ethische Fragestellung ist“.

Natürlich müsse man den jeweiligen Menschen betrachten und die Situation genau prüfen, aber viele Gefahren entstünden erst aufgrund des Einsatzes von FEM, betont der gelernte Gesundheits- und Krankenpfleger. „Es ist ein komplexes Feld, in das pflegerische Maßnahmen, ärztliche Anordnungen, die Leitungskultur einer Einrichtung, physiotherapeutische Begleitung und ein gutes Überleitungsmanagement hineinspielen.“ Deswegen seien wissenschaftliche Belege wichtig.

An der Studie nehmen über sechs Monate sechs bis acht Krankenhäuser mit voraussichtlich 28 Stationen in der Region Halle-Leipzig teil. Dabei wird auf 14 Stationen das alternative Interventionsprogramm angewandt, die anderen behalten die bislang übliche Versorgung bei, erklärt Abraham: „Ziel ist es, daraus ein evidenzbasiertes Konzept für das Weglassen von FEM und den Einsatz von alternativen Strategien zu entwickeln.“ Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert PROTECT über drei Jahre mit rund 580 000 Euro.

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