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ErnährungsmedizinMaßnahmen gegen Mangelernährung sparen Kosten ein

Unbehandelt verursacht Mangelernährung höhere Komplikationsraten und längere Verweilzeiten. Doch nur wenige Häuser kümmern sich strukturiert und interdisziplinär um das Problem. Dabei ließe sich damit Geld sparen.

Obst liegt auf einem Tisch. Dahinter steht eine Frau, die etwas dokumentiert.
Shahin/stock.adobe.com
Symbolfoto

Inakzeptabel. So kommentierte der Europarat 2003 in seiner Resolution zur „Verpflegung und Ernährungsversorgung in europäischen Krankenhäusern“ die hohe Zahl mangelernährter Patientinnen und Patienten. Handlungsempfehlungen für Politik und Krankenhäuser sollten die reduzieren. Getan hat sich in Deutschland seitdem wenig. Dabei sprechen die Fakten für sich. Mehr als 25 Prozent aller Patienten, die stationär im Krankenhaus behandelt werden, sind bereits bei der Aufnahme krankheitsbedingt mangelernährt. Vor allem alte Menschen, Krebskranke und gastroenterologische Patienten zählen zu den Risikogruppen.

Das Problem: Im klinischen Alltag spielt das eine nur untergeordnete Rolle. Viele Mangelernährte werden nicht erkannt – weil ein unzureichender Ernährungszustand nicht jedem anzusehen ist. Und, weil das Thema in einer Gesellschaft, in der Übergewicht und Adipositas immer häufiger vorkommen, weniger im Fokus steht. Dabei können ebenso adipöse Menschen mangelernährt sein.

Vier Milliarden Euro Mehrkosten

Das hat Folgen. Wird eine Mangelernährung nicht behandelt, kann sich der Ernährungsstatus von Betroffenen während eines Klinikaufenthalts verschlechtern – und somit die Prognose für den weiteren Verlauf ihrer Grunderkrankung. Gestörte Immunfunktion und Wundheilung können zu einer erhöhter Komplikationsrate und einem längerem Genesungsprozess führen. Notwendige Therapiemaßnahmen müssen unter Umständen pausiert oder vorzeitig abgebrochen werden. Die Lebensqualität sinkt, während sich Morbidität und Mortalität erhöhen.

Das alles betrifft nicht nur Patienten. Ein längerer Krankenhausaufenthalt, mehr Versorgungsbedarf, häufigere stationäre Wiederaufnahmen belasten auch das Gesundheitssystem. Allein für Krankenhäuser werden die zusätzlichen Kosten auf etwa vier Milliarden Euro geschätzt. „Viele Studien zeigen, dass es, wenn man diese Patienten erkennt und eine adäquate Ernährungstherapie einleitet, zu einer signifikanten Reduktion sowohl der infektiösen als auch der nicht-infektiösen Komplikationsrate und letztendlich der Mortalität kommt. Umso unverständlicher ist daher, dass das Thema Mangelernährung bisher so stiefmütterlich behandelt wird“, sagt Prof. Dr. Thomas Reinbold.

Aktuell ist in Deutschland die Gesamtsituation völlig unbefriedigend.

Der Ernährungsmediziner ist seit April 2018 Direktor der Klinik für Geriatrie mit 74 stationären Betten am Klinikum Dortmund und hat dort ein lückenloses Screening der geriatrischen Patienten auf Mangelernährung eingeführt. Es ist einfach, auch direkt bei der Aufnahme, durchzuführen. In einem Vorscreening wird durch vier Standard-Fragen abgeklärt, ob Patienten möglicherweise eine Mangelernährung haben oder ein Risiko dafür besteht. Gut vier Minuten dauert das. Wird eine der Fragen mit Ja beantwortet, folgt das Hauptscreening durch ein Ernährungsteam.

Die Zahlen aus fünf Jahren zeigen: Bei knapp 60 Prozent der Patienten wird in Dortmund auf diese Weise eine Mangelernährung festgestellt. Ohne strukturiertes Detektieren könnten längst nicht alle Fälle identifiziert und anschließend ernährungsmedizinisch therapiert werden. Gerade mit Blick auf eine älter werdende Gesellschaft sieht Reinbold deshalb Handlungsbedarf: „Mangelernährung wird deutlich an Relevanz zunehmen. Und aktuell ist in Deutschland die Gesamtsituation völlig unbefriedigend.“

Vier Punkte nennt er, um in Zukunft besseraufgestellt zu sein. Erstens: Es braucht mehr interprofessionelle Ernährungsteams in Krankenhäusern. Bislang sind diese nur an gut fünf Prozent der Häuser zu finden. Zweitens: Es ist mehr Sensibilisierungfür Mangelernährung im Krankenhaus erforderlich. Das betrifft neben Ärzteschaft und Pflegekräften vor allem die Geschäftsführungen. Mangelernährung ist nicht nur gesundheitlich, sondern auch ökonomisch ein relevantes Thema. Drittens: Ein Screening auf Mangelernährung sollte in Krankenhäusern schon bei der Aufnahme verpflichtend sein. Und viertens: Eine ausreichende Refinanzierung für die eingesetzten Ressourcen muss gewährleistet sein. Nur so könnten mangelernährte Patienten adäquat therapiert werden.

Über kurz oder lang wird es zu einem verpflichtenden Screening auf Mangelernährung in deutschen Krankenhäusern kommen.

Das fordern seit Jahren verschiedene Fachgesellschaften. Und mittlerweile findet das Thema gesundheitspolitisch mehr Beachtung. In der Ernährungsstrategie der Bundesregierung „Gutes Essen für Deutschland“, die Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde und rund 90 bestehende und geplante ernährungspolitische Maßnahmen bündelt, ist ein verpflichtendes Screening auf Mangelernährung in Krankenhäusern aufgeführt. Es ist ein erster Schritt, auch wenn keine konkreten Vorgaben zu Durchführung und Finanzierung formuliert werden.

Das verdeutlicht eine politische Herausforderung: Die Ernährungsstrategie wurde vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erarbeitet, für Strukturen im Gesundheitswesen hingegen ist das Bundesministerium für Gesundheit verantwortlich. Richtig zuständig fühlte sich bislang keines der Ministerien. „Über kurz oder lang wird es zu einem verpflichtenden Screening auf Mangelernährung in deutschen Krankenhäusern kommen. Trotzdem muss man natürlich sagen: Auch wenn die Politik den Bedarf für Reformen in der ernährungsmedizinischen Versorgung sieht – es dauert alles viel zu lange“, urteilt Thomas Reinbold.

Eine bessere Finanzierung und die Aussicht auf ein verpflichtendes Screening sieht er als positive Verstärker, um Mangelernährung im Krankenhaus künftig mehr ins Bewusstsein zu rücken: „Ich habe die Hoffnung, dass bei Geschäftsführungen und Klinikdirektoren eine Sensibilisierung für dieses Thema erfolgt. Vor allem auch mit Blick auf die ökonomisch negativen Effekte, die eine nicht-diagnostizierte und nicht-therapierte Mangelernährung bedeutet. Das hat ein Gros der Krankenhäuser in Deutschland einfach noch nicht erkannt.“

Studie zeigt Kostenreduktion von mehr als 20 Prozent

Mit seinem Amtsantritt als Direktor der Klinik für Geriatrie hat Thomas Reinbold damit begonnen, grundlegende Strukturen für ein ernährungsmedizinisches Konzept zu schaffen. Sukzessive hat er das Ernährungsteam erweitert auf drei Ernährungsmediziner, zwei Diätassistentinnen, vier Logopädinnen und Studierende. Denn allein mit einem Screening und der Diagnose, dass eine Mangelernährung oder ein Risiko dafür vorliegt, ist es nicht getan. Es muss ein umfangreiches Ernährungsassessment folgen. Verschiedene Verfahren wie Handkraftmessung, bioelektrische Impedenzanalyse zur Messung der Körperzusammensetzung und Laborwertbestimmungen helfen dabei, eine Ernährungstherapie individuell auf die Bedürfnisse der Patienten zusammenzustellen. Um den Erfolg der Ernährungstherapie zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, werden die Patienten regelmäßig reevaluiert.

In Dortmund wird die Ernährung der Patienten entsprechend angepasst und in enger Zusammenarbeit mit der Krankenhausküche ein Ernährungsplan erstellt. Benötigt ein Patient zusätzlich eiweißreiche oder energiereiche Kost, können Frischkäse-Shakes oder mit Maltodextrin angereicherter Tomatensaft bestellt werden. Reicht das nicht aus, um den Bedarf des Patienten zu decken, kann spezielle Trinknahrung als Zwischenmahlzeit ergänzt werden.

Eine Studie zeigte, dass der gezielte ernährungstherapeutische Einsatz von Trinknahrung im Krankenhaus zu einer Kostenreduktion von mehr als 20 Prozent führen kann. Ist der Patient jedoch nicht in der Lage, sich ausreichend selbst zu ernähren, muss eine Sondenkostform in Betracht gezogen werden. „In meiner Abteilung gelingt es weitestgehend, dass der komplette ernährungsmedizinische Einsatz in Bezug auf die Behandlung der Mangelernährung am Ende refinanziert ist. Das hat zum einen mit der Erlösrelevanz zu tun, also der Kodierung der Mangelernährung als Nebendiagnose, die durch ein lückenloses Ernährungsmanagement stattfindet. Zum anderen spielen indirekte Faktoren eine Rolle wie Verweildauersenkung, Komplikationsratensenkung und ein besseres Outcome der Patienten“, erklärt Thomas Reinbold.

Konzept hat sich bewährt

Das Konzept hat sich in Dortmund bewährt. Es soll in Zukunft schrittweise im gesamten Klinikum ausgerollt werden. Auch in der München Klinik Neuperlach wird das Thema Mangelernährung ernstgenommen. Dort wurde 2020 ein Prähabilitationsprogramm für onkologische Patienten eingeführt. Entwickelt hat es Dr. Eva-Maria Jacob, Leitung Stabsstelle Ernährungsmedizin, gemeinsam mit der Abteilung für Allgemein- und Viszeralchirurgie sowie der Koloproktologie.

Die Ausgangslage: Als Haus mit viszeral-onkologischem Schwerpunkt ist ein erheblicher Anteil der onkologischen Patienten mangelernährt. Eine besondere Herausforderung stellt bei ihnen der sogenannte Postaggressionsstoffwechsel dar. Damit wird eine veränderte Stoffwechselsituation nach einer Operation beschrieben, die von außen nur bis zu einem gewissen Grad beeinflusst werden kann. Patienten haben eine erhöhte Stoffwechselaktivität und greifen auf körpereigene Reserven zurück – liegt eine Mangelernährung vor, kann das kritisch werden.

Mit dem Prähabilitationsprogramm wird deshalb versucht, vor einer Operation die Stoffwechselsituation der Patienten zu stabilisieren beziehungsweise deren Speicher gut zu füllen. Es ist ein multimodales Programm. Die Ernährungstherapie bildet den größten Teil, wird aber durch weitere Pfeiler ergänzt. Zum Beispiel das Patient Blood Management. Dabei handelt es sich um ein präoperatives Behandlungskonzept, bei dem die Patienten Mikronährstoffe wie Vitamine und Spurenelemente wie Eisen erhalten. Dadurch sollen sie vor einer Operation ausreichend eigenes Blut produzieren können. Bluttransfusionen während einer OP, die immer eine zusätzliche Belastung für das Immunsystem darstellen, können so vermieden werden. Ebenso spielen Physiotherapie vor einer OP sowie psychologische Betreuung eine Rolle.

Viel kann schon erreicht werden, indem die Kost umgestellt und angepasst wird.

Stellt sich in der München Klinik Neuperlach erstmals ein onkologischer Patient vor, wird das Ernährungsteam hinzugezogen. Neben einem Screening auf Mangelernährung sowie der Laborwertbestimmung werden außerdem CT-Untersuchungen, die im Rahmen der Staging-Untersuchungen durchgeführt werden müssen, vom Ernährungsteam gesichtet. Dadurch können Informationen zum Muskelstatus erhalten werden.

Bei Auffälligkeiten schließen sich ein Ernährungsassessment und eine Erstberatung an. Es wird ein ernährungstherapeutisches Konzept erarbeitet, das in der Tumorkonferenz berücksichtigt wird. Ziel der Ernährungstherapie, die auf einer gut in den Alltag zu integrierenden normalen Ernährung fußt, ist es, eine weitere Gewichtsabnahme zu verhindern und den Körper mit den benötigten Nährstoffen zu versorgen. Eine stationäre Aufnahme wird nur bei dringender medizinischer Notwendigkeit angestrebt. „Viel kann schon erreicht werden, indem die Kost umgestellt und angepasst wird, zum Beispiel durch Auswahl geeigneter Lebensmittel, Mahlzeitenstruktur oder Konsistenzanpassung“, erklärt Eva-Maria Jacob.

In den meisten Fällen erfolgt vor einer OP eine onkologische Vorbehandlung wie eine Chemotherapie oder Bestrahlung. Am Ende dieser Behandlung wird leitliniengerecht eine Pause von vier Wochen eingelegt, damit sich die Patienten körperlich davon erholen können. In diesem Zeitfenster findet das Prähabilitationsprogramm als engmaschig kontrolliertes Konzept in der Tagesklinik statt. So soll die verbleibende Zeit bis zur Operation optimal genutzt und der Patient bestmöglich auf die OP vorbereitet werden.

Wir sehen, dass unsere Patientinnen und Patienten sowohl körperlich als auch seelisch von einer individuellen Vorbereitung auf die Operation profitieren.

Soll ein Patient ohne onkologische Vorbehandlung operiert werden, ist dessen körperlicher Zustand jedoch sehr schlecht, wird er nach Möglichkeit ebenfalls vor der Operation prähabilitiert. Um bis zu maximal drei Wochen wird die OP auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, wobei das immer individuell betrachtet und die Entscheidung interdisziplinär von der Onkologie, Chirurgie und Ernährungsmedizin getroffen wird.

Die Ernährungsmedizin ist in Neuperlach fest in der onkologischen Behandlung integriert und Eva-Maria Jacob vom Programm überzeugt: „Wir sehen, dass unsere Patientinnen und Patienten sowohl körperlich als auch seelisch von einer individuellen Vorbereitung auf die Operation profitieren: Das Blutbild bessert sich und sie gehen gestärkt in die Operation. Postoperativ kann sich der Aufenthalt auf einer Überwachungsstation beziehungsweise der gesamte Krankenhausaufenthalt verkürzen.“

Mangelernährung beginnt und endet nicht allein im Krankenhaus

Mangelernährung beginnt und endet natürlich nicht allein im Krankenhaus. Um sie nachhaltig zu therapieren, sind passende Rahmenbedingungen – auch zwischen den Sektoren – erforderlich. „Aktuell wird der Ernährungszustand von Patientinnen und Patienten oftmals noch falsch eingeschätzt. Wird eine Mangelernährung diagnostiziert, ist die Behandlung häufig schwierig, da sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich Behandlungsstrukturen fehlen“, bemerkt Eva-Maria Jacob.

Ernährungsmedizin stelle ein Schnittstellenthema dar, beidem Pflegende, Ärztinnen und Ärzte sowie Ernährungsfachkräfte zusammenarbeiten müssten. Daran hakt es noch. In der ambulanten und stationären Versorgung wünscht sich Eva-Maria Jacob deshalb insgesamt eine Stärkung der Ernährungsmedizin: „Ernährungstherapie kann und sollte in jedem klinischen Fach die fachspezifischeTherapie ergänzen.“ Weil viele Erkrankungen sich durch eine gesunde, ausgewogene Ernährung verhindern ließen und Krankheitsverläufe positiv beeinflusst werden könnten.

Finanzierung von ernährungsmedizinischen Maßnahmen

Studien zeigen, dass Ernährungstherapien für Patienten in Krankenhäusern eine hoch kosteneffektive Intervention darstellen, Risiken und Komplikationen durch Mangelernährung zu reduzieren. Im Vergleich zu den Kosten, die durch einen längeren Krankenhausaufenthalt beziehungsweise weitere medizinische Behandlungen entstehen, fallen die Kosten einer Ernährungstherapie gering aus. Nach Angaben des Kompetenznetzwerks Enterale Ernährung liegen die Ausgaben für ein flächendeckendes, präventives Ernährungsscreening bei etwa 55 Millionen Euro pro Jahr. Demgegenüber stehen jährlich knapp vier Milliarden Euro, die durch undiagnostizierte Mangelernährung verursacht werden.

Dennoch sind standardisierte Screenings auf Mangelernährung, Ernährungsteams und ernährungstherapeutische Maßnahmen in Krankenhäusern nicht die Regel. Grund ist eine unzureichende Refinanzierung über das DRG-System. Mangelernährung kann über spezifische ICD-10-GM-Kodes in verschiedenen Schweregraden erfasst werden. Es liegt allerdings keine Erlösrelevanz vor.

Seit 2019 gibt es einen OPS-Kode „Ernährungsmedizinische Komplexbehandlung“. Auch hier gibt es noch keine nennenswerte Erlösrelevanz – dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus liegen nicht genügend Kalkulationsdaten vor. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hat den OPS-Kode nun erstmalig in die StrOPS-Richtlinie 2024 aufgenommen, Krankenhäuser können also Anträge für Strukturprüfungen stellen.

Der Gemeinsame Bundesausschuss hat außerdem im Juli 2022 beschlossen, Qualitätsverträge im neuen Leistungsbereich „Diagnostik, Therapie und Prävention von Mangelernährung“ zu erproben. Erste Gespräche zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen wurden bereits geführt, zu einem Vertragsabschluss kam es bislang aber nicht.

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