
Die Medizin hat offenbar ein Führungsproblem. Zu diesem Schluss kommt der Hamburger Marburger Bund nach einer Mitgliederbefragung unter Klinikärzten der Hansestadt. An der Umfrage zu Machtstrukturen und Führungskultur in Hamburger Kliniken hatten im Juli 2025 rund 500 Ärztinnen und Ärzte teilgenommen. Die Ergebnisse wurden am 15. September veröffentlicht.
„Die Machtstrukturen in Kliniken sind ungesund“, sagt Dr. Pedram Emami, Erster Vorsitzender des Marburger Bundes Hamburg. Kaum eine andere Branche sei durch eine „so starke Machtkonzentration bei gleichzeitiger Abhängigkeit von Vorgesetzten“ geprägt. „Das schafft einen Nährboden für Machtmissbrauch – eine Realität, die wir auch in Hamburg nur zu gut kennen“, so Emami, der auch Neurochirurg ist. „Wir brauchen mehr Transparenz bei Stellenbesetzungen, Vielfalt in Führungspositionen und eine kooperative Arbeitskultur, die auch für die junge Ärztegeneration attraktiv ist.“
Kaum eine andere Branche ist durch eine so starke Machtkonzentration bei gleichzeitiger Abhängigkeit von Vorgesetzten geprägt.
Laut Umfrage erleben die meisten Ärztinnen und Ärzte die Hierarchien in ihrem Arbeitsumfeld als machtzentriert, erschwerend für Teamarbeit und Eigeninitiative und hinderlich für Innovation und Vielfalt. Das spiegeln auch zahlreiche Freitext-Kommentare wider, die von „täglichem Pöbeln und Beschimpfen durch die Führungsebene“ berichten, von fehlender Kommunikation auf Augenhöhe oder von einer manifestierten Abhängigkeit durch starre Hierarchiestrukturen – vor allem während der fachärztlichen Weiterbildung.
Machtmissbrauch ist vielerorts Alltag

87 Prozent der Befragten haben nach eigenen Angaben Machtmissbrauch oder ungerechtfertigte Einflussnahme in der Klinik erlebt oder beobachtet – 36 Prozent vereinzelt, 51 Prozent mehrfach. Zudem gaben 81 Prozent an, im Laufe ihrer ärztlichen Tätigkeit mit rassistischen, sexistischen oder anderen sachfremden Kommentaren konfrontiert gewesen zu sein.
Unsere Umfrage zeigt: Machtmissbrauch ist strukturell verbreitet – das sind keine Einzelfälle.
Die 199 Freitext-Beispiele zeichnen ein teilweise erschreckendes Bild vom Arbeitsklima in Hamburger Kliniken, so der Marburger Bund. „Unsere Umfrage zeigt: Machtmissbrauch ist strukturell verbreitet – das sind keine Einzelfälle“, sagt Katharina von der Heyde, Geschäftsführerin des MB Hamburg und Rechtsanwältin. „Misogyne, sexistische, aber auch homophobe und rassistische Kommentare gehören leider auch 2025 noch zum Alltag vieler Ärztinnen und Ärzte.“ Das müsse sich endlich ändern – „und deshalb wollen wir das noch mehr öffentlich machen.“
Auszüge aus den Freitext-Antworten zur Frage: „Wenn ja, welche Kommentare waren das?“
- Frage nach der Farbe meiner Intimbehaarung
- Wie wollen Sie Fachärztin werden, Sie haben ja nicht mal einen Mann?
- Als Frau sollte man nicht in den OP, da muss man sich konzentrieren und darf mit den Gedanken nicht bei der Familie sein.
- Beförderung einer Kollegin sei nicht möglich, weil sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes sicher bald viele Kinder bekomme.
- Wenn du planen solltest, ein Kind zu bekommen, geht es hier nicht für dich weiter.
- Oh, Sie sind schwanger? Dann ist Ihre Karriere ja jetzt vorbei.
- Schwulenfeindliche Äußerungen
- Rassistische Kommentare über meine Herkunft
- Frage von Chef „Warum hatten wir noch nie Sex?“
Quelle: Mitgliederumfrage des MB Hamburg, Machtstrukturen und Führungskultur, 2025
405 Teilnehmende berichteten in Freitext-Antworten zudem von intransparenten oder ungerechten Führungsentscheidungen – von Vetternwirtschaft bei Stellenbesetzungen über willkürliche Rotationsentscheidungen bis hin zu ökonomisch motivierten Vorgaben, die medizinischen Leitlinien oder Studien widersprechen. Eine offene Feedback- und Fehlerkultur scheint in vielen Kliniken nur selten etabliert zu sein, berichtet der Marburger Bund Hamburg.
Auszüge aus den Freitext-Antworten zur Frage: „In welchen Bereichen erleben Sie Führungsentscheidungen als intransparent oder ungerecht?“
Entscheidungen des Chefarztes gelten, obwohl sie den Leitlinien oder Studien nicht entspricht.
Befristung von Arbeitsverträgen für Fachärztinnen (im gebärfähigen Alter), wohingegen unbefristete Verträge für männliche Kollegen möglich sind.
Frauen werden an Führungsentscheidungen nicht beteiligt. Es bestehen Männerzirkel, die Entscheidungen treffen.
Förderung erfolgt nicht nach Leistung, sondern nach subjektiver Beliebtheit.
Etwas läuft schief, statt Verantwortung von oben zu übernehmen, Kaskade des Anschreiens …
Quelle: Mitgliederumfrage des MB Hamburg, Machtstrukturen und Führungskultur, 2025
Mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent) beurteilt die Besetzungsverfahren für ärztliche Führungspositionen in ihrer Klinik als intransparent und kaum an objektiven Kriterien orientiert. Zudem geben 54 Prozent an, dass Führungspositionen „kaum oder gar nicht divers“ besetzt sind.
Von den Befragten waren 62 Prozent Frauen. 36 Prozent der Befragten befanden sich in der fachärztlichen Weiterbildung, 31 Prozent arbeiteten als Fachärztin oder Facharzt, weitere 22 Prozent als Oberärztin oder Oberarzt.
Ärztinnen und Ärzte fordern Veränderungen
In rund 400 Freitext-Antworten formulieren die Ärztinnen und Ärzte konkrete Vorschläge, wie Führung künftig diverser, gerechter und zukunftsfähiger gestaltet werden kann. Gefordert werden unter anderem bessere Personalführungskompetenzen in leitenden Positionen, gezielte Frauenförderung und -quoten, die Möglichkeit von Führung in Teilzeit etwa in Form von Doppelspitzen sowie sachliche und nachvollziehbare Kriterien bei Stellenbesetzungen und Beförderungen.
Die grafisch aufbereiteten Ergebnisse der Mitgliederumfrage des MB Hamburg können Sie hier herunterladen.







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