
„Ich probier’ es einfach.“ So lautet das Lebensmotto von Dr. Leopold Rupp. Aus Schleswig-Holstein kommt er und nach dem Abi war schnell klar: Arzt möchte er werden. Er folgte damit gewissermaßen einer Familientradition, wie er scherzt. Beide Eltern üben den Beruf aus, die Großeltern taten es auch. Für das Medizinstudium zog es den damals 19-Jährigen 2011 dann nach Berlin an die Charité. Heute, mit 33 Jahren, ist er Assistenzarzt in der Notaufnahme der Charité – Universitätsmedizin Berlin und macht eine Weiterbildung für Allgemeinmedizin.
Dass Rupp sich seinen Berufswunsch erfüllt hat, liegt nicht nur an seinem fachlichen Wissen und seiner Durchsetzungskraft. „Meine Arbeitsplatzausstattung – also mein hochfahrbarer Rollstuhl – macht einen riesen Unterschied. Ich muss es so betonen: Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass ich meinen Beruf so ausüben kann, wie ich es heute tue. Ohne wäre es nicht möglich. Selbst an so einem so barrierefreien Arbeitsplatz wie einem Krankenhaus“, sagt Leopold Rupp.
Es braucht natürlich Menschen, die einen unterstützen.
Er hat Diastrophische Dysplasie. Das ist eine seltene Krankheit, die durch Kleinwuchs und Skelettfehlbildungen wie einer Verkürzung von Armen und Beinen gekennzeichnet ist. Rupp ist deshalb auf einen Rollstuhl angewiesen. Von seiner Behinderung hatte er vor Studienantritt trotzdem nicht erzählt. Weil ihm seine Abizeit gezeigt habe, dass man mit hilfsbereiten Menschen „ziemlich alles schafft“. Tatsächlich begegneten ihm im Studium relativ wenige Hürden. Auf dem Campus gibt es viele alte Gebäude, von denen nicht alle barrierefrei sind – durch individuelle Stundenplanung konnte im Vorfeld aber geklärt werden, in welchen Häusern er alternativ die nötigen Vorlesungen besuchen konnte.
Nach seiner Doktorarbeit in der Anästhesiologie fing Rupp 2018 dort auch als Assistenzarzt an. Obwohl er zum ersten Mal befürchtete, dass er diese Aufgabe vielleicht nicht schaffen könnte. Weil es ein recht körperliches Fach sei, erklärt er. „Es braucht natürlich Menschen, die einen unterstützen. Die an dich glauben und – gerade auch, wenn du eine Behinderung hast – sagen: ‚Wir probieren das jetzt aus.’ Das hatte ich zum Glück an sehr vielen Stellen, auch an der Charité. Meine damalige Chefärztin in der Anästhesiologie sagte zum Beispiel damals, als ich Zweifel daran hatte, ob ich tatsächlich in der Anästhesiologie arbeiten könnte, in etwa: ‚Wenn nicht wir, wer dann?’ Das rechne ich ihr sehr hoch an.“
Charité sehr divers aufgestellt
Seit 1991 setzt sich die Charité für das Thema Inklusion ein. Das trägt Früchte. Nach Angabe der Pressestelle erfüllt die Universitätsmedizin die nach dem Sozialgesetzbuch IX verpflichtende Beschäftigungsquote von Menschen mit Schwerbehinderung und ihnen gleichgestellten Menschen mit rund sechs Prozent. 18 630 Mitarbeitende sind an der Charité beschäftigt, etwa 1100 von ihnen sind Menschen mit einer Schwerbehinderung oder einer Gleichstellung. Diese arbeiten in sämtlichen Bereichen der Charité, beispielsweise in der Krankenversorgung, im Forschungsbereich, im ärztlichen Dienst bis hin zu den Verwaltungs- und Leitungsbereichen.
Seit vergangenem Jahr beschäftigt die Charité am Campus Mitte im Berliner Simulations- und Trainingszentrum zudem Menschen mit Schwerbehinderung, die aktuell noch in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung angestellt sind. Ziel ist es, nach einer längeren Erprobungsphase auf einen sogenannten Außenarbeitsplatz der Werkstatt ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis an der Charité entstehen zu lassen. „Das dortige Team hat sich aktiv und bewusst für diesen Weg der Förderung von Inklusion in ihrem Arbeitsbereich entschieden, was uns sehr freut und was wir gerne unterstützen“, so die Pressestelle.
Aber in der Charité haben wir einen großen Vorteil: Wir sind hier extrem divers aufgestellt.
„Die Situation unterscheidet sich vielleicht in anderen Städten oder Häusern. Aber in der Charité haben wir einen großen Vorteil: Wir sind hier extrem divers aufgestellt. Wir haben viele queere Pflegekräfte oder Ärztinnen und Ärzte. Viele haben einen Migrationshintergrund. Dadurch ist in vielen Köpfen ohnehin dieses Verständnis vorhanden, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung einzustehen. Und Menschen mit Behinderung sind in solch einem Unternehmen dann auch ganz selbstverständlich ein Teil dieser Diversität“, beschreibt Leopold Rupp sein Erleben, in einem Universitätsklinikum als Arzt zu arbeiten. Für ihn ist Inklusion am Arbeitsplatz gelebte Realität.
In seinem Berufsalltag spielt seine Erkrankung für ihn heute kaum noch eine Rolle. Das war am Anfang seiner beruflichen Laufbahn noch anders. Zwar hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits seinen hochfahrbaren Arbeitsrollstuhl. Aber zusätzlich unterstützten ihn Arbeitsassistentinnen bei körperlichen Arbeiten im OP, schoben zum Beispiel ein Patientenbett oder reichten ihm etwas aus einem für ihn zu hohen Schrankfach. Leopold Rupp fragte damals bewusst nicht um die Hilfe seines Klinik-Teams – weil er fachlich noch unerfahren war und von den anderen nicht als Belastung wahrgenommen werden wollte.
Große Teams puffern einzelne Einschränkungen ab
Leopold Rupp ist mit seiner Erkrankung aufgewachsen und kannte sich deshalb damit aus, Arbeitsplatzausstattung oder Arbeitsassistenz beim Inklusionsamt zu beantragen. Anderen, die ihre Behinderung vielleicht erst später erworben haben und Hilfe beim Ausfüllen der Anträge benötigen, stehen dafür besondere Ansprechpartner zur Verfügung, die sich außerdem für mehr Inklusion an der Charité einsetzen. So gibt es arbeitnehmerseitig Schwerbehindertenvertretungen mit insgesamt 13 Personen. Zusätzlich wurden zwei zuständige Inklusionsbeauftragte des Arbeitgebers berufen, die voll- beziehungsweise teilzeitlich das Thema bearbeiten und beispielsweise Führungskräfte beraten. Jährlich bearbeiten sie rund 300 Vorgänge, um die Mitarbeitenden bei der Eingliederung in den Berufsalltag zu unterstützen – zum Beispiel auch bei Fragen zur Hilfsmittelbeschaffung.
Gesamtgesellschaftlich zeigt sich, dass das Thema Behinderung beziehungsweise gesundheitliche Einschränkungen immer noch mit vielen Barrieren verbunden ist.
In anderen Betrieben sei das nach Auskunft der Presseabteilung nicht die Regel. Die Aufgaben würden sonst von Inklusionsbeauftragten lediglich nebenamtlich anderen Stellenbeschreibungen, vorzugsweise im Personalbereich, zugeordnet. Was in den vergangenen Jahren laut Charité-Pressestelle aber noch immer auffällt: „Gesamtgesellschaftlich zeigt sich, dass das Thema Behinderung beziehungsweise gesundheitliche Einschränkungen immer noch mit vielen Barrieren verbunden ist. Viele trauen sich nicht, darüber zu reden oder den Arbeitgeber darüber zu informieren, da es immer noch viele Vorurteile gibt“, äußert sich die Pressestelle dazu. Die Devise lautet an der Charité daher: „Je früher wir als Arbeitgeber informiert sind, desto eher können Mitarbeitende Unterstützung bekommen.“

Die Arbeitsassistenz benötigt Leopold Rupp seit dem Wechsel nach zweieinhalb Jahren von der Anästhesiologie in die Notaufnahme nicht mehr. Das hat zum einen damit zu tun, dass er als Arzt selbstbewusster geworden ist. Zum anderen hat auch die Medizin als hierarchisches Fach dazu beigetragen. „Je mehr Erfahrung man hat, desto mehr delegiert man“, kommentiert das Rupp. Mehr administrative Aufgaben, Aufsichtspflicht, dafür aber weniger körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten bestimmen nun seinen Arbeitsalltag. Braucht er doch in einer Situation Unterstützung, kann er auf das Klinik-Team zählen. „Die Größe macht schon einen Unterschied. Gerade an einer großen Uniklinik hat man auch mehr Personalressourcen. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Notaufnahme. Wir sind wenigstens zwei Ärztinnen und Ärzte, das ist der Mindeststandard. Dazu kommen mindestens sechs bis acht Pflegekräfte. Das heißt, wir sind ein großes Team. Je größer das Team ist, desto besser kann man ja einzelne Einschränkungen abpuffern“, erklärt Rupp. „Unterm Strich wird mir sicher mehr geholfen als anderen Kollegen, aber das wird vom Team gern gemacht. Auch, weil ich eben Qualitäten mitbringe, mit denen ich das Team unterstützen kann und die Notaufnahme dadurch gut läuft.“
Barrierefreier Arbeitsplatz
Als Notfallmediziner könne er zwar nicht im Hubschrauber fliegen, aber innerklinische Notfallmedizin „klappt hervorragend“, wie er sagt. Auch, weil bestimmte Abläufe in der medizinischen Versorgung nicht in Stein gemeißelt seien. Einen zentralen Venenkatheter am Hals kann er zum Beispiel nicht so legen wie seine Kolleginnen und Kollegen ohne körperliche Einschränkungen. „Meine Hände sind eben anders. Ich halte die Nadel und den Katheter anders. Ein Punkt dabei ist aber ganz entscheidend: Egal, wie man es nun durchführt – es muss am Ende trotzdem die gleiche Qualität und Sicherheit für die Patientinnen und Patienten bestehen“, sagt Rupp. Das stellt er immer wieder unter Beweis. Vorbehalte im Kollegenkreis aufgrund seiner körperlichen Behinderung gibt es daher keine mehr.
Vorurteile bei seinen Patientinnen und Patienten erlebt Leopold Rupp selten. „Die Leute haben Respekt vor Ärztinnen und Ärzten. Das macht einen großen Unterschied. Das Pflegepersonal erfährt viel häufiger verbale Gewalt. Und tatsächlich erleben viel mehr meiner weiblichen Kolleginnen eine Diskriminierung als ich, werden zum Beispiel Schwester genannt“, erzählt er. Kommt es doch einmal vor, zum Beispiel bei betrunkenen Patienten in der Notaufnahme, reagiert Rupp je nach Situation und Aggressionslevel seines Gegenübers mal mit einem lustigen Spruch oder mal streng. Stellt gegebenenfalls auch die Wahl, ihn entweder als behandelnden Arzt zu akzeptieren oder medizinische Hilfe in einem anderen Haus zu suchen.
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen

Die Förderung von Inklusion am Arbeitsplatz ist in Deutschland durch gesetzliche Regelungen und Bestimmungen verankert. So verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität. Das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet Arbeitgeber, Menschen mit Behinderungen eine diskriminierungsfreie Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Außerdem sind Unternehmen mit 20 Mitarbeitenden und mehr gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung zu vergeben und darüber eine Anzeige an die zuständige Agentur für Arbeit abzugeben. Werden trotz Beschäftigungspflicht keine oder zu wenige Menschen mit Behinderung eingestellt, muss eine sogenannte Ausgleichsabgabe gezahlt werden. Zum Beispiel müssen Arbeitgeber mit mindestens 60 Arbeitsplätzen, die keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, pro nicht-besetztem Pflichtarbeitsplatz monatlich 720 Euro zahlen.
Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlichte im vergangenen Juli den Bericht „Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen 2023“. Arbeitgeber aus dem Gesundheits- und Pflegesektor boten demnach im Jahr 2022 nach dem Anzeigeverfahren SGB IX zusammengerechnet rund 166 000 schwerbehinderten Menschen eine Beschäftigung. Damit ist dieser Sektor hinter dem verarbeitenden Gewerbe und dem öffentlichen Dienst der drittgrößte Wirtschaftszweig für diese Personengruppe. Lediglich 15 Prozent der Pflichtarbeitsplätze wurde im Gesundheits- und Pflegesektor nicht besetzt. Ein Blick auf die Zahlen nach Betriebsgröße macht deutlich, dass Arbeitgeber mit mehr als 60 Arbeitsplätzen mit 2,6 Prozent nur selten ihrer Beschäftigungspflicht gar nicht nachkommen. Man könne durchaus den Schluss ziehen, dass Krankenhäuser – die wohl ausschließlich zur Gruppe der Arbeitgeber mit mehr als 60 Arbeitsplätzen gehörten – den Inklusionsgedanken etwas besser umsetzten als kleinere Betriebe im Gesundheitswesen, lautet die Einschätzung aus der Pressestelle der Bundesagentur für Arbeit.
Im Bericht heißt es außerdem, dass die häufigste Ursache einer Schwerbehinderung eine im Lebenslauf erworbene Krankheit ist. Schwerbehinderte Menschen sind daher meist älter. Das trifft bei 90 Prozent der rund 8 Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland zu. Mit Blick auf den demografischen Wandel wird ihre Zahl in Zukunft daher steigen. Bei drei Prozent der Menschen war die Behinderung angeboren, in gut einem Prozent der Fälle war die Schwerbehinderung Folge eines Unfalls. Die Erwerbsbeteiligung schwerbehinderter Menschen ist deutlich niedriger als bei der nicht-schwerbehinderten Bevölkerung. Dennoch ist die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen im vergangenen Jahrzehnt kontinuierlich gestiegen. Trotz allem gelingt es schwerbehinderten Arbeitslosen seltener als nicht-schwerbehinderten eine Beschäftigung am ersten – also regulären – Arbeitsmarkt aufzunehmen.

Leopold Rupp kann sich eine weitere Karriere in der Notaufnahme gut vorstellen. Das wird auch durch die Arbeitsbedingungen unterstützt: „Ein Krankenhaus ist einer der besten Arbeitsplätze, an denen man als Mensch mit Behinderung arbeiten kann – weil es eben barrierefrei ist. Es gibt keine Stufen, dafür Fahrstühle, weil man überall ein Bett hinschieben können muss. Alle Türen sind breit – weil eben Betten hindurchpassen müssen“, sagt Rupp. Doch gleichzeitig gibt es trotz aller Vorteile durchaus Punkte, die perspektivisch noch verbessert werden könnten. Ein Beispiel ist die Klingel der Notaufnahme, die von allen Hilfesuchenden genutzt werden soll, die nicht mit dem Rettungswagen dort ankommen. Für Rollstuhlfahrer ist diese nicht erreichbar. Dafür wird gerade eine Lösung erarbeitet. Eine andere Sache ergänzt Leopold Rupp ebenfalls: „Diese Barrierefreiheit im Krankenhaus ist aus Patientensicht gedacht, nicht aus Arbeitnehmersicht.“ So sind die Bereiche für die Mitarbeitenden nicht immer barrierefrei, wie die Umkleidebereiche oder Personaltoiletten. Für ihn persönlich wäre es natürlich ebenfalls hilfreich, wenn die Schränke in der Notaufnahme allesamt niedriger angebracht wären – aber Leopold Rupp sieht das pragmatisch. Schon allein aus Platzgründen wäre das nicht umsetzbar. Sein Urteil lautet daher: Die Charité ist mit der Umsetzung der Inklusion bereits sehr weit, gerade im Vergleich zu anderen Krankenhäusern. Seine Entscheidung, Arzt in Berlin werden zu wollen, hat er jedenfalls nie bereut.
Inklusion
Laut UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 ist die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein Menschenrecht. 185 Staaten – darunter auch Deutschland – haben sich dazu bekannt und sind damit die Verpflichtung eingegangen, Barrieren für Menschen mit Behinderung zu beseitigen. Inklusion wird trotzdem noch nicht überall gelebt, vielerorts stoßen Menschen mit Behinderung im Alltag noch auf Hürden.
Menschen werden dann als behindert bezeichnet, wenn ihre geistige Fähigkeit, die körperliche Funktion oder die seelische Gesundheit länger als sechs Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie die Chancen, einen Beruf auszuüben können für die Betroffenen dadurch beeinträchtigt sein. Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 gelten als schwerbehindert. Bei einem Grad der Behinderung von mindestens 30 und unter 50 besteht die Möglichkeit, sich schwerbehinderten Menschen gleichstellen zu lassen. Das Ziel dieser Gleichstellung ist es, Unterstützung im Alltag und Berufsleben zu ermöglichen.






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