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LabordiagnostikPatientennahe Schnelltests mit großem Wachstumspotenzial

POCT steht für Labordiagnostik, die direkt am Krankenbett oder in der unmittelbaren Nähe zum Patienten durchgeführt wird. Studien prognostizieren jenen Schnelltests derzeit v. a. bei Infektionserkrankungen großes Wachstumspotenzial. Ob sich deren Einsatz in Kliniken lohnt, hängt davon ab, wie gut das Zusammen­spiel mit dem Zentrallabor funktioniert – und ob sich die POCT-Diagnose erstatten lässt.

HIV Selbsttest
AdobeStock/Степан_Хаджи
Symbolfoto

Die Vorteile der patientennahen Labor­diagnostik liegen auf der Hand: Gerade in lebensbedrohlichen Situationen gilt es, so zeitnah wie möglich aus Laborwerten direkte therapeutische Konsequenzen ableiten zu können. Statt etwa Blutproben erst an ein Zentrallabor transportieren und Rücksicht auf dessen zeitliche Abläufe nehmen zu müssen, bietet das sogenannte „point-of-care-testing“ (POCT) diese Analyse direkt vor Ort, in der Nähe des Patienten – beispielsweise am Krankenbett. Immerhin beträgt die Turn-around-Time (TAT), also die Zeit, die verstreicht, bis das Ergebnis vorliegt, laut zahlreicher Studien mit POCT häufig zwischen fünf und 15 Minuten. Das liegt deutlich unter der selbst unter optimalen Bedingungen erzielbaren TAT eines Zentrallabors.

Gesundheits-Apps auf dem Vormarsch

Der Ursprung der patientennahen Labordiagnostik ist in der Klinik zu finden, wo man mit POCT-Geräten nach wie vor überwiegend Blutgas- und Blutzuckerbestimmungen durchführt. Die Vorteile des POCT werden heute allerdings zunehmend nicht nur im ambulanten, sondern auch für die Patientenselbstkontrolle im Homecare-Bereich genutzt. Gerade hier bieten moderne Smartphones eine sich ständig vergrößernde Zahl an Apps, die ihren Nutzern Auskünfte über ihren Gesundheitszustand geben können. So zählte die Studie „Digital-Health-Anwendungen für Bürger“ der Bertelsmann Stiftung bereits 2016 mehr als 100 000 Gesundheits-Apps. Heute liegt diese Zahl bereits bei etwa 500 000 Apps.

Obwohl jene Digital-Health-Anwendungen gerade Patienten in ihrer Rolle stärken und deren Versorgung besser machen können, spielt der tatsächlich existierende Bedarf in Sachen Prävention und Gesundheitsversorgung laut den Autoren allerdings noch eine untergeordnete Rolle. Der Markt entwickle sich vor allem angebotsgetrieben, weshalb ein Großteil von privaten Anbietern aus dem Lifestyle- und Fitness-Bereich stammen.

Schnelltests für den Hausgebrauch

Trotzdem bietet das Smartphone Neuerungen, die auch einen unmittelbaren Nutzen für die Gesundheitsversorgung darstellen. Speziell in Sachen schnelle Blutzuckerbestimmung und -überwachung für Diabetespatienten etwa liefern Hersteller heute POCT, die zum Schnelltesten statt eines regelmäßigen blutigen Einstichs die Methode des Flash-Glucose-Monitoring (FGM) nutzen.

Solche minimal-invasiven Systeme werden standardmäßig am Oberarm angebracht und messen dort selbständig und kontinuierlich den Glukosewert. Ein Messfühler, der in das Subkutangewebe eingeführt wird, misst minütlich den Zuckerwert der Zwischenzellflüssigkeit und speichert ihn auf einem Mikrochip. Zum Ablesen des aktuellen Glukosespiegels wird der Sensor mit einem Lesegerät gescannt. Seine Daten lassen sich aber auch mithilfe diverser Apps auf dem Smartphone anzeigen. Das hat den Vorteil, dass Nutzer quasi permanent über den An-oder Abstieg ihres Blutzuckerwertes informiert sind und so auch schneller reagieren können.

Das zweite große Einsatzgebiet der POCT für den Hausgebrauch ist die Schlaganfallvorsorge. Nach einer Bypass- oder einer biologischen Aortenklappenersatz-OP wird Patienten häufig das Medikament Marcumar zur Hemmung der Blutgerinnung verordnet, um Schlaganfällen vorzubeugen. Auch hier bieten verschiedene Hersteller Geräte an, die jenen Patienten den Weg ins Krankenhaus ersparen, heute auch von Smartphone-Apps unterstützt werden und ähnlich funktionieren wie klassische Blutzuckermessegräte. „90 Prozent aller POCT sind für die Glukose, entweder als Fingerprickmessung oder als kontinuierliche Messung. Bei den Marcumar-Patienten spielen POCT ebenfalls eine große Rolle“, erläutert Professor Peter Luppa, leitender Oberarzt am Institut für Klinische Chemie und Pathobiochemie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.

Alle anderen Schnelltests für den Hausgebrauch spielen, ähnlich wie die vielen Gesundheits-Apps, eher in der Liga der Fitness-Apps und sind daher klinisch weniger relevant. Das gilt laut Peter Luppa auch für POCT, mit denen sich Leber- oder Nierenfunktionen von Zuhause aus testen lassen – eine große Rolle dürfte dabei spielen, dass sich quasi niemand auf das Ergebnis eines solchen Selbsttests verlässt, sondern das Ergebnis dann von Experten in einer Klinik überprüfen lässt. Anders ist es nicht nur bei Schwangerschaftstests, sondern offenbar auch bei HIV-Selbsttests, die seit diesem Jahr in Deutschland zugelassen und in Drogerien und Apotheken frei erhältlich sind. „Grob geschätzt sind in diesem Zeitraum etwa 30 000 Selbsttests gemacht worden“, so der Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe, Holger Wicht, unlängst gegenüber dem Spiegel. 

POCT erkennen Infektionserreger

Allerdings dürfte sich der POCT-Markt in Zukunft auch im stationären und ambulanten Sektor neue Umsatzmöglichkeiten ausrechnen – zumindest, wenn man der neuesten Studie des Beratungsunternehmens Frost und Sullivan Glauben schenkt. Demnach wird der europäische POCT-Markt, der speziell für das Erfassen von Infektionserkrankungen derzeit 753,1 Millionen US-Dollar ausmacht, bis zum Jahr 2022 voraussichtlich auf 1,41 Milliarden US-Dollar anwachsen. Einen Grund für diesen Boom sehen die Autoren in der Entwicklung der POCT zur Infektionserregererkennung, etwa der Früherkennung von Sepsis (Blutvergiftung). „Sepsis ist die dritthäufigste Todesursache in Europa. In Deutschland und Österreich treten jährlich 79 000 Fälle auf, allein in Deutschland sterben täglich etwa 130 Patienten“, rechnet die Studie vor.

Obwohl jede Stunde Wartezeit auf die richtige Therapie die Überlebenschancen des Patienten drastisch verschlechtert, müssen Mediziner mit den derzeitigen Methoden bis zu drei Tage warten, bis sie wissen, welches Bakterium die Infektion auslöst und welche Medikamente dagegenwirken. Die Fortschritte der Mikrobiologie haben dazu geführt, dass sich Sepsissymptome heute auch mit POCT messen lassen. So bietet etwa der Hersteller Radiometer einen solchen Schnelltest, der die schnelle Diagnose und Behandlung unterstützt. Er dient der Früherkennung einer Sepsis in Notaufnahme und Intensivstation und soll die Diagnosezeit nach eigenen Angaben auf unter 21 Minuten verkürzen. „Heute können sie die Nukleinsäuren der Infektionserreger direkt analysieren, das ist erheblich genauer, mit einer unheimlich guten Spezifität. Das ist der Bereich, der jetzt gangbar gemacht wird von den POCT Geräten.

Ein echtes Zentrallabor mit einer guten Mikrobiologie stellt fast die Ausnahme in der Deutschen Kliniklandschaft dar. Daher sind gerade sie heute auf dem Vormarsch“, so der Vorsitzende der Arbeitsgruppe POCT der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin (DGKL), Peter Luppa. In Sachen Infektionserregererkennung gibt es im Zuge des mikrobiologischen Fortschritts auch POCT, mit denen sich neben Influenza, Typhus, Malaria-Erregern oder Dengue-Fieber sogar Krankenhauskeime wie MRSA und Antibiotikaresistenzen diagnostizieren lassen. Sie sind nicht nur für den Einsatz im Krankenhaus, sondern auch für Entwicklungsländer sehr hilfreich – denn dort existiert die Alternative in Form eines gut ausgestatteten Zentrallabors eher selten.

Die Multianalyse-POCT

Den zweiten großen Boom der Schnelltests prognostiziert die Studie von Frost und Sullivan in Zukunft bei den sogenannten Multiplexed POCT (xPOCT). Sie machen die gleichzeitige Vor-Ort-Quantifizierung verschiedener Analyten aus einer einzigen Probe – etwa Blut, Plasma oder Urin – möglich. Einige xPOCTs, wie die des Anbieters Alveo Technology, sind in der Lage, mit bis zu 100 unterschiedlichen Analyten simultan zu verfahren. Auch das System Allegro von Nova Biomedical zur Überwachung metabolischer Erkrankungen ist bereits für den deutschen Markt erhältlich und kann laut Hersteller 15 Parameter zur Blutzucker- und HbA1c-Kontrolle, Herz- oder Lipidstoffwechsel-Risikomarkern und Nierenfunktion erkennen. „Das xPOCT ist ein echtes Zukunftsprojekt. Es wird allerdings erst dann wirklich Früchte tragen, wenn es gut funktioniert“, schränkt Peter Luppa ein.

Dass sie sich in der deutschen Kliniklandschaft noch nicht etabliert haben, liegt laut dem Experten auch an der Abrechnungsfrage: „Bei einem xPOCT haben sie 19 von 20 Analysen umsonst gemacht, wenn nur eine davon pathologisch ist, denn der Rest wird eben nicht erstattet. Das ist ein bislang noch ungelöstes Problem bei POCT-Multiplexen“, ergänzt Luppa.  Bei der Frage, ob sich ein Krankenhaus für den Einsatz von POCT entscheidet, gelte es zudem, einen Konflikt mit dem Zentrallabor (ZLB) zu vermeiden. „Konflikte entstehen dann, wenn zwei sehr gut funktionierende Systeme aneinandergeraten – wenn ein ZLB am Ort ist und das Krankenhaus trotzdem zusätzlich POCT einsetzt, etwa den Cardiacmarker“, erläutert Peter Luppa.

Das größte Entwicklungspotenzial sieht der Experte daher vor allem im ländlichen Raum: „Wenn das ZLB in weiterer Entfernung ist – und das ist durchaus oft der Fall – kann POCT den entscheidenden Unterschied aus­machen.“ Dann müsse man dort aber auch die Mitarbeiterschulung verbessern. „Die Schulung liegt noch immer im Argen, denn die Arbeitsbelastung des Personals ist so hoch, das oft Weiterbildungen für den Umgang mit POCT auf der Strecke bleiben“, mahnt Luppa. 

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