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Personalisierte Medizin„Die teuerste Behandlung ist die, die nicht wirkt“

Präzisere Diagnostik, nebenwirkungsarme und zielgerichtete Therapien – in die personalisierte Medizin werden große Hoffnungen gesetzt. Das Modellvorhaben Genomsequenzierung soll es Patienten erleichtern, individualisierte Behandlungen zu erhalten.

Genanalyse
gopixa/stock.adobe.com
Symbolfoto

„Wir haben durch diesen Schritt wirklich eine Vorreiterrolle in der Versorgung übernommen, da ist unser Gesundheitssystem bisher am weitesten“, sagt Prof. Dr. Nisar Malek. Was den Experten für personalisierte Medizin so überzeugt, ist das Modellvorhaben Genomsequenzierung gemäß Paragraf 64e SGB V, das in diesem Jahr an den Start gegangen ist. Erst Anfang Juli hatte der Bundesrat der Verordnung zugestimmt. Das Vorhaben ist Kernstück der Nationalen Strategie für Genommedizin des Bundesministeriums für Gesundheit. Ziel ist es, die Genommedizin in die Gesundheitsversorgung in Deutschland zu integrieren.

700 Millionen Euro von den gesetzlichen Kassen

Es richtet sich an Patienten mit Verdacht auf seltene erbliche Erkrankungen sowie an Krebspatienten, für die Standardtherapien keine Option mehr darstellen. Für einen Zeitraum von fünf Jahren wird bei diesen Patientengruppen die Genomsequenzierung – also die Bestimmung der gesamten erblichen Informationen – bundesweit einheitlich ermöglicht. Betroffenen von seltenen Erkrankungen soll durch die präzisere Diagnostik die momentan noch mehrere Jahre währende Zeit bis zum Befund verkürzt werden. In der Onkologie werden sich neue Therapiemöglichkeiten jenseits der Leitlinientherapien erhofft. Mit 700 Millionen Euro wird das Vorhaben durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert.

Die Genomsequenzierung ist ein Kernelement der personalisierten Medizin. Erst 2003 wurde das erste menschliche Genom entschlüsselt. Das Humangenomprojekt dauerte noch 13 Jahre und kostete gut drei Milliarden US-Dollar. Heute ist die Ganzgenomsequenzierung deutlich schneller und erheblich preiswerter. Das macht den Sprung von der Forschung in die Versorgung erst möglich. Aber was heißt das für die personalisierte Medizin? Welche Möglichkeiten ergeben sich tatsächlich aus der aktuellen Entwicklung? Krebs, Diabetes, neurodegenerative, psychiatrische Erkrankungen, auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen – von der personalisierten Medizin verspricht man sich für Erkrankungen, die heute noch nicht heilbar sind, neue Therapieansätze.

Onkologie ist Vorreiter

Das genetische Profil der Patienten zu entschlüsseln, ist aber längst nicht an allen Krankenhäusern in Deutschland realisierbar. Eine besondere Rolle nehmen deshalb die Zentren für personalisierte Medizin (ZPM) ein, die an Universitätskliniken in ganz Deutschland lokalisiert sind und Patienten einen einfachen Zugang für personalisierte medizinische Ansätze gewähren sollen. Der Fokus in den ZPM liegt noch in der Behandlung von Krebspatienten.  In der Onkologie wurden in der Vergangenheit die bislang größten Fortschritte in der personalisierten Medizin erreicht. Mehr Lebensqualität, längere Lebenszeit – für schwer therapierbare Patienten kann das unter Umständen schon heute realisiert werden.

Prof. Dr. Nisar Malek
Universitätsklinik Tübingen
Der Internist Prof. Dr. Nisar Malek ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin I des Universitätsklinikums Tübingen mit Schwerpunkt auf der Gastrointestinalen Onkologie. Seit 2015 ist er zudem Direktor des Zentrums für Personalisierte Medizin (ZPM) Tübingen.

Die Personalisierung der Therapie ist an vielen Stellen schon unser tägliches Geschäft.

„Die Personalisierung der Therapie ist an vielen Stellen schon unser tägliches Geschäft“, so Malek. „Wir verfügen mittlerweile in der Onkologie über viele Medikamente, die sich zielgerichtet gegen Veränderungen der Zellen wenden. Das ist eine große Revolution, die stattgefunden hat“, erklärt er. Denn Tumor ist nicht gleich Tumor. Tumorpatienten erhalten deshalb nicht mehr nur ausschließlich Therapien wie Chemotherapien, die unspezifisch alle sich schnell teilende Zellen angreifen – und damit nicht nur die Krebszellen. Stattdessen macht man sich auf die Suche nach Molekülen in der Tumorzelle, die das Tumorwachstum steuern. Über den Zusammenhang, welche genetischen Veränderungen letztlich zu entarteten Zellen führen und welche Wirkstoffe spezifisch dagegen eingesetzt werden können, herrscht für zahlreiche Krebsarten bereits ein gutes Verständnis. DNA-Sequenzierung sowie weitere Methoden der exakten Charakterisierung von Tumorgewebe sind dafür eine Grundvoraussetzung. Genau wie die interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Letztere war einer der Treiber für die Gründung des ZPM in Tübingen. Denn um personalisierte Medizin weiterzuentwickeln und in den klinischen Alltag zu übertragen, neue Therapien zu entwickeln und diese klinisch zu erproben, braucht es den Austausch über verschiedene Disziplinen hinweg. Das Molekulare Tumorboard ist ein wichtiges Kernstück der ZPM. Unter anderem Molekularbiologen, Onkologen, Bioinformatiker und Humangenetiker werten gemeinsam Daten von Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen aus. Über molekulare­ Diagnostik wird nach Besonderheiten der Erkrankung von Patienten und somit nach Ansatzpunkten für neue Therapieoptionen gesucht. Das war in klassischen Klinikstrukturen nicht möglich. Zunächst in Tübingen eingeführt, folgten ZPM an drei weiteren Universitätskliniken in Baden-Württemberg: Heidelberg, Freiburg und Ulm. Die Zentren kooperieren miteinander und teilen ihr Wissen untereinander, was der Patientenversorgung zugutekommt.

Personalisierung durch einheitliche Standards

Mittlerweile wurde das Konzept der ZPM auf ganz Deutschland ausgeweitet und, gefördert durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), das Deutsche Netzwerk für Personalisierte Medizin gegründet. Nisar Malek ist Leiter des Projekts. Inzwischen sind 26 Universitätskliniken Teil dieses Netzwerks. Die Zertifizierung als ZPM durch die Deutsche Krebsgesellschaft ist dabei Voraussetzung, um einheitliche Qualitätsstandards sicherzustellen. Alle Zentren sind miteinander vernetzt über eine gemeinsame IT-Infrastruktur, die alle Prozesse koordiniert und die strukturierten Daten, die an allen Zentren gesammelt werden, vergleichbar und somit im Netzwerk jederzeit nutzbar macht.

Maßgeschneiderte Medizin 

Die personalisierte Medizin gilt als Paradigmenwechsel: Der individuelle Patient und seine spezifische Erkrankung stehen im Mittelpunkt, generalistische Behandlungsansätze sollen einer maßgeschneiderten Therapie mit zielgerichtet wirksamen Medikamenten weichen. Nebenwirkungen für Patienten sollen reduziert oder ganz vermieden werden. Warum entsteht eine Krankheit, wie funktioniert der Stoffwechsel von Patienten, auf welche Wirkstoffe sprechen sie an? Solche Fragen lassen sich nur mit Blick auf das genetische Profil der Patienten oder Merkmale des erkrankten Gewebes sowie mit Hilfe der neuesten Technologien der molekularen Labordiagnostik und Bildgebung, durch Fortschritte in der Mikrobiologie und Genetik beantworten.

Das ist von besonderer Bedeutung, denn dass die personalisierte Medizin noch nicht in der Breite angekommen ist, hat auch mit der bisher mangelnden Zugänglichkeit notwendiger Daten zu tun. Es sind große Mengen an Daten von vielen Patienten erforderlich, um Korrelationen erkennen und daraus wissenschaftliche Schlüsse ziehen zu können. Bei den ZPM wird diese Hürde offensiv abgebaut. Die Molekularen Tumorboards der verschiedenen Standorte werden durch die gemeinsame Datenplattform „dnpm:DIP“ miteinander verbunden. Darüber werden die Daten von Krebspatienten gespeichert und Behandlungen dokumentiert. Fälle können leichter miteinander verglichen und bessere Aussagen über die Wirksamkeit von Therapien getroffen werden. „Durch die systematische Datensammlung lernen wir ständig dazu“, betont Malek. Gemeinsame Strukturen, Dokumentations- und Bioinformatikstrukturen sind für eine fortlaufende Wissensgenerierung unabdingbar.

Weil die Expertise, technologische und bioinformatische Möglichkeiten, personelle und infrastrukturelle Ausstattung für personalisierte Medizin nicht überall gegeben sind, konnten sich ausschließlich Universitätskliniken für die Zertifizierung als ZPM bewerben. Zu einer Umlenkung der Patientenströme an die Universitätskliniken soll es dennoch nicht kommen. Vielmehr hat das ZPM-Netzwerk den Vorsatz gefasst, Erkenntnisse aus Universitätskliniken in die Breite zu tragen – auch bei dezentraler Patientenversorgung. „Das funktioniert mittlerweile schon gut. Es gibt ZPM, bei denen bis zu 50 Prozent der Patienten nicht an den Zentren behandelt werden, sondern in deren Heimatkrankenhäusern. Die ZPM sind dann nur für die Diagnostik, Beurteilung und das Molekulare Tumorboard zuständig“, erklärt Malek.

Genomsequenzierung soll Kosten sparen

Momentan führt das ZPM Tübingen bei gut 1000 Patienten pro Jahr die Diagnostik und Behandlung durch. Malek schätzt, dass bundesweit über die Zeit des Modellvorhabens Genomsequenzierung jährlich um die 20 000 onkologische Patienten von einem personalisierten medizinischen Ansatz profitieren werden. Wie sich die umfangreiche molekulare Diagnostik auf die Kosten für das Gesundheitssystem auswirkt, muss sich noch zeigen. „Grundsätzlich setzen wir teure Diagnostiken und Therapien ein. Aber das erfolgt mit dem Ziel, den Therapieerfolg zu erhöhen und die Rate derer zu steigern, die auf eine Behandlung ansprechen. Daraus ergibt sich langfristig sogar eine Kostenersparnis, weil wir Fehlbehandlungen vermeiden können“, sagt Malek. Das konnte mittlerweile nach eigener Aussage an den ZPM nachgewiesen werden. „Die teuerste Behandlung ist die, die nicht wirkt“, so Malek.

Es ist zweifellos so, dass wir auch bei den inflammatorischen Erkrankungen den Schritt in die Personalisierung brauchen.

Inwieweit eine umfangreiche genetische Diagnostik die Versorgung positiv verändern wird und ob das finanziell tragbar ist, wird am Ende der Laufzeit des Modellvorhabens Genomsequenzierung evaluiert. Es wird untersucht, welche Mehrwerte sich dadurch ergeben und wie ein Übergang in die Regelversorgung möglich sein kann. „Ich glaube, die Genomsequenzierung wird in wenigen Jahren eine Standardtechnologie sein, die wir überall einsetzen werden. Wir werden KI nutzen, um noch bessere Vorhersagen treffen zu können, welche Therapie für wen passt oder nicht. Wir werden bessere Medikamente haben“, blickt Nisar Malek in die Zukunft. Für ihn ist der eingeschlagene Weg genau der richtige.

Dass sich die bisher aufgebauten Strukturen des Deutschen Netzwerks für Personalisierte Medizin bewährt haben, bestärkt Malek darin. Nachdem sie für die Onkologie etabliert sind, soll sich die personalisierte Medizin auch in anderen Bereichen weiterentwickeln. „Wir heißen ja schließlich nicht Zentrum für personalisierte Onkologie“, bemerkt Malek. Der Blick richtet sich nun auf komplexe chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Psoriasis, Spondyloarthritis oder schwere chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. In Deutschland werden gut 17 Milliarden Euro für die Behandlung solcher Erkrankungen ausgegeben. Dennoch liegt die Ansprechrate bei diesen Erkrankungen lediglich bei 30 bis 40 Prozent. Um hier Verbesserungen in der Therapiewahl zu erreichen, sollen die bisherigen Erfahrungen aus den ZPM helfen und eine schnelle Vernetzung vorantreiben, die Dateninfrastruktur der Onkologie soll ebenfalls übernommen werden. Die vier Universitätskliniken Baden-Württembergs, dazu Universitätskliniken aus Berlin, Erlangen und Kiel haben einen G-BA-Antrag gestellt, um Molekulare Entzündungsboards einzuführen. Die Entscheidung darüber steht noch aus. Der Handlungsauftrag für Nisar Malek ist aber klar: „Es ist zweifellos so, dass wir auch bei den inflammatorischen Erkrankungen den Schritt in die Personalisierung brauchen.“

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