
Von einer schwierigen Melange für alle Unternehmen spricht Peter Brehm, Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender des gleichnamigen fränkischen Implantate Herstellers auf die Frage, wie es der Medizintechnik-Branche aktuell gehe. „Durchwachsen“ sei die Stimmung der Hersteller, beobachtet der Industrieverband Spectaris, in dem Vertreter der Medizintechnik- (MedTech) und Hilfsmittelindustrie organisiert sind: In der ersten Jahreshälfte seien die Umsätze zwar nominal gestiegen: „Viele Firmen sind mit gut gefüllten Auftragsbüchern ins Jahr 2023 gestartet“. Letzteres aber lag vermutlich auch an Nachholeffekten in Folge der Lieferkettenprobleme der Vorjahre.
Trübes Geschäftsklima
Zunehmend kühle sich das Klima ab, registriert Spectaris. „Hohe Energie- Regulierungs- und Zulassungskosten belasten die Branche“, registriert Manuela Müller-Gerndt, verantwortlich für den Bereich Healthcare & Pharma Life Sciences bei PwC Deutschland. Betroffen seien nicht nur die Entwicklung und Herstellung von Medizinprodukten, sondern auch Sterilisationsverfahren oder die Anwendung von Narkosegasen für eine Anästhesie.
Hinzu kommen gestiegene Personalkosten. Alles zusammen hebe die Gesamtkostensteigerungen nach Ansicht der Branchenverbände Spectaris und BVMed deutlich über die offiziell ausgewiesene Inflationsrate: Sven Koppelwiser, bei Spectaris Sprecher der Arbeitsgruppe Hilfsmittel, warnt: „Viele Unternehmen können mittelfristig nicht mehr wirtschaftlich arbeiten“.
Der ifo-Geschäftsklimaindex für den Bereich „Herstellung von medizinmechanischen Erzeugnissen“ liegt auf dem niedrigsten Stand seit zwei Jahren. Der konjunkturelle Rahmen könnte insgesamt ebenfalls besser sein. Der Internationale Währungsfonds (IWF) registriert für den Standort Deutschland nicht nur fehlendes Wachstum, auch im internationalen Wettbewerb stehen die Deutschen zunehmend schlechter da: Für dieses Jahr erwartet der IWF nach seiner jüngsten Konjunkturprognose ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um 0,5 Prozent.
Unserer Ansicht nach wird die Wirtschaftsleistung in Deutschland bis zum Jahresende weiter schrumpfen.
Ein bedeutender Teil der gegenwärtigen Belastungen sei konjunktureller Natur, sagt die Chefvolkswirtin der KfW, Fritzi Köhler-Geib: „Die Unternehmen schätzen ihre Geschäftslage über viele Sektoren hinweg als schwierig ein. Unserer Ansicht nach wird die Wirtschaftsleistung in Deutschland bis zum Jahresende weiter schrumpfen“. Ursache für die maue Stimmung sind auch die fortgesetzten Zinsanhebungen der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Bekämpfung der hartnäckigen Inflation. Die steigenden Zinsen verteuern Kredite und dämpfen damit das Wachstum. Die zunehmenden Schwierigkeiten beim Kreditzugang träfen mittelständische Firmen aus allen Wirtschaftsbereichen, stellt die KfW fest. Knapp 32 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland stuften das Verhalten ihrer Banken bei Kreditverhandlungen inzwischen als restriktiv ein.
Wegen der Besonderheiten im vorwiegend budgetgetriebenen Gesundheitswesen ließen sich die Kostensteigerungen bei den Herstellern überdies nur schwer und zeitverzögert weitergeben , erinnern ihre Verbände. Einsparpotenziale seien in vielen Unternehmen weitgehend ausgeschöpft. Der Druck auf die Erträge nehme zu. Spectaris fordert die gesetzliche Verankerung eines indexbasierten Kostenausgleichs im Sozialgesetz. Dieser Mechanismus würde es ermöglichen, die zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen vereinbarten Preise und Festbeträge automatisch zumindest an die allgemeine Kostenentwicklung anzupassen.
Lähmende Bürokratie und Rechtsunsicherheit
Vor allem hausgemachte Probleme lähmten die Medizintechnik-Industrie in Deutschland, kritisiert Brehm: Namentlich „ein handwerklich schlecht gemachtes, viel zu kompliziertes regulatorisches System für Medizinprodukte, das Innovationen ausbremst (MDR)“. Brehm beklagt „überbordende Bürokratisierung und Regulierungswut in vielen Bereichen, die unsere KMU (kleine und mittlere Unternehmen, d. Red.) ersticken“. Hinzu kommen schleppende Digitalisierung und mangelnde Datennutzung.
Von diesen Schwierigkeiten besonders betroffen sei der Mittelstand, wo in der Medizintechnik-Industrie über die Hälfte der Wertschöpfung generiert werde. Ein Drittel der Medtech-Beschäftigten arbeiten in mittelständischen Betrieben. Die durch Bürokratie und Rechtsunsicherheit aufgebauten Hürden binden Kapazitäten, klagen die Industrievertreter.
Nur noch 20 Prozent der MedTech-Unternehmen erwarten der BVMed-Herbstumfrage 2023 zu Folge in diesem Jahr steigende Gewinne. „Mit 49 Prozent geht sogar knapp die Hälfte der Unternehmen von einer weiteren Verschlechterung der Gewinnsituation aus“ . Beinahe drei Viertel der befragten Unternehmen verzeichneten gestiegenen Logistik-, Rohstoff- und Energiepreise. Zumindest an dieser Front dürfte sich in absehbarer Zukunft Besserung einstellen, sollte die Situation im Nahen Osten nicht eskalieren.
Inflationsbedingt gestiegene Produktionskosten und die MDR sind eine tödliche Kombination.
Regulativer Dauer-Aufreger der Branche bleibt die europäische Medizinprodukte-Richtlinie MDR (Medical Device Regulation), welche das Zulassungsprozedere in der EU (Europäische Union) regelt. Knapp mehr als 60 Prozent der befragten Betriebe geben an, die MDR-Implementierung sei derzeit die größte Hürde für Investitionen in Neuprodukte. Vor der MDR sei Deutschland der Erstmarkt für neue Medizinprodukte gewesen. Das habe sich inzwischen komplett gedreht. „Neue Produkte werden künftig, wenn überhaupt, bestenfalls verzögert nach Europa gelangen“, betont BVMed-Vorstand Marc Michel: Die EU-Verordnungen MDR und IVDR für das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von In-vitro-Diagnostika (IVD) und Labortests nennt der Verband handwerklich schlecht gemacht, zu kompliziert und bürokratisch: „Inflationsbedingt gestiegene Produktionskosten und die MDR sind eine tödliche Kombination“, warnt BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll.
Nur durch massives Drängen hätten Industrie- und der Ärzteverbände im Sommer 2022 eine Verlängerung der Übergangsfristen für bestimmte Medizinprodukte erreicht. „Jetzt ist die richtige Zeit, darüber zu reden, damit wir nach der Europawahl mit der neuen Kommission und dem neuen Parlament zügig konkret werden können“, so Möll.
Die Kosten der Umsetzung der MDR betrügen nach Branchenschätzungen sieben bis zehn Milliarden Euro, betont Unternehmer Brehm. Laut einer Studie der Boston Consulting Group sind MedTech-Unternehmen in 65 Prozent der Fälle gezwungen, Entwicklungsressourcen in die Regulatorik zu verlagern. Immerhin 89 Prozent der Unternehmen priorisierten mittlerweile die US-amerikanische Zulassung ihrer Produkte. Und der DIHK ermittelte, dass bei fast jedem zweiten Betrieb Innovationsprojekte auf Eis liegen. Ein Fünftel der Unternehmen weiche bei der Erstzulassung ihrer medizintechnischen Innovationen auf andere Märkte aus.
Der regulatorische Übereifer wird nach Meinung von Branchenbeobachtern mehr und mehr zum Standortproblem . Denn es ist bei weitem nicht die MDR allein, auf die die Unternehmen in den kommenden Monaten reagieren müssen.
Neue EU-Regularien
Sorgen machen sich ganze Industriezweige vor allem wegen der angedachten Regelung zu den Per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS). In der EU sollen die so genannten Ewigkeitschemikalien verboten werden, weil sie sich fortwährend in der Umwelt und im menschlichen Organismus anreichern. Der geplante Bann betreffe rund 10 000 Substanzen, von denen viele bislang unverzichtbar und alternativlos für die Medizintechnik und für die Pharmaindustrie sind“, warnen die Industrievertreter. Von enormen Herausforderungen spricht PwC mit Blick auf PFAS. „Damit würden Hochleistungs-Werkstoffe verboten werden, die entscheidende Innovationen der letzten Jahre in dem Diagnostik- und Therapieprozess erst ermöglicht haben“. Betroffen würden unter anderen Stents und Herzschrittmacher, medizintechnische Geräte für die Transplantation (Herz-Lungen-Maschinen), sterile single-use Medizinprodukte, Blister-verpackungen für Medikamente.
Auf der Agenda stehen außerdem das EU- Lieferkettengesetz, die geplante EU-Plastiksteuer, die Regelungen aus dem Nachweisgesetz, welches Arbeitgeber verpflichtet, die wesentlichen Bedingungen eines Arbeitsvertrages aufzuzeichnen, die Niederschrift zu unterzeichnen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen. Über ein tägliches Stakkato von neuen Regulierungsvorhaben aus Brüssel oder Berlin schimpft die Industrie. Außerdem befürchten sie Doppelregulierungen, etwa zur MDR.
Nach Meinung vieler Branchenvertreter treiben die immer neuen Auflagen immer mehr Unternehmen aus dem Land. „Viele Hersteller verbindet eine lange Tradition mit dem Standort Deutschland und sind eng mit diesem verbunden“, sagt PwC-Expertin Müller-Gerndt: „Allerdings können wir vermehrt feststellen, dass F&E-Tätigkeiten in die USA oder nach Asien verlagert werden“. Die KMU vermissten den klaren Willen der Politik die Situation zu verbessern, deutsche Unternehmen zu unterstützen und die inländische Produktion zu stärken“, schimpft Unternehmer Brehm. „Viele sehen keine Chance mehr im internationalen Wettbewerb“. Er fordert pragmatische Lösungen und Handlungsspielraum (auch für die Behörden, die gleichermaßen unter den Regelungen leiden), „ansonsten werden F&E und Produktion ins (außereuropäische) Ausland abwandern“. Insbesondere der US-Markt gilt derzeit als attraktiv für Innovationseinführungen. Die Zeiten, in denen das europäische Regulierungssystem für Medizinprodukte dem US-amerikanischen FDA-System überlegen war, seien lange vorbei. „Mehr als ein Viertel der von uns befragten MedTech-Unternehmen verringern ihre Investitionen in Deutschland, meldet Spectaris. Nur noch 25 Prozent erhöhen ihre Investitionen“.
Um die Belastungen durch MDR und weitere Auflagen für die Firmen zu reduzieren, fordert der BVMed die Abschaffung der Rezertifizierung alle fünf Jahre, einen besseren Datenzugang und ein Antragsrecht beim Forschungsdatenzentrum für forschende Medizinprodukte-Unternehmen. Für hilfreich hält der Branchenverband darüber hinaus eine Selbstzertifizierung von Produkten niedriger Risikoklasse (Klasse B) und ein Fast-Track-Verfahren für Innovationen.





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