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InnovationNeue Bewegungsfreiheit durch intelligente Prothesen








Selektiver Nerventransfer

Bei einer höheren Amputationsebene, etwa einer Unterarmamputation, stellt sich das Problem, dass damit auch jene Muskelstränge fehlen, über deren Signale etwa einzelne Finger angesteuert werden könnten. Denn am Oberarm bleiben dafür nur die zwei Signale des Bizeps und des Trizeps. Konventionelle Armprothesen kommen mit diesem Steuerungsproblem so zurecht, dass sie bestimmte Muskelkontraktionskodes nutzen. „Wenn der Anwender etwa beide Muskeln anspannt, schaltet die Elektronik der Prothese beispielsweise vom Ellenbogen zur Hand weiter, und dann kann er die Hand steuern. Das ist allerdings nicht besonders ergonomisch“, erläutert Hans Dietl.

Um dieses Problem zu umgehen, greifen Prothesenhersteller auf die chirurgische Behandlungsmethode der Targeted Muscle Reinnervation (TMR) zurück: Ein selektiver Nerventransfer, bei dem die intakten Armnerven mit Zielmuskeln des restlichen Stumpfes neu verbunden werden. „Bizeps und Trizeps bestehen aus mehreren Muskelsegmenten. Man schneidet von sämtlichen Muskelsegmenten die ansteuernden Nervenenden ab, die an einem einzigen Nerv enden, und legt und vernäht diese dann an jene Nerven, die früher die Hand angesteuert haben“, erklärt Dietl. Daraus ergeben sich bis zu sechs unabhängige Muskelsignale, die zu einer deutlich verbesserten Steuerung der Prothese beitragen.

Diese mittlerweile bewährte Behandlungsmethode nutzt auch Karl-Heinz Ammon, der seinen linken Arm 2001 bei einem Arbeitsunfall verloren und zunächst nur eine Schmuckprothese ohne Funktion getragen hat. 2002 wurde bei ihm jener selektive Nerventransfer durchgeführt, wodurch er seine myoelektrische Prothese jetzt quasi mit der Karft seiner Gedanken steuern kann.

Künstliche Intelligenz erkennt Bewegungsmuster

Die 19-jährige Lina Wolf dagegen, der aufgrund einer seltenen Krebserkrankung ihre rechte Hand und Teile des Unterarms amputiert werden musste, kommt bei der Steuerung ihrer „Myo Plus“-Armprothese ohne TMR-Methode aus. Stattdessen greift ihre myoelektrische Prothese auf künstliche Intelligenz zurück. Sie ordnet spezielle Bewegungsmuster ihrer verbliebenen Muskeln im Arm, die von acht Elektroden erfasst werden, bestimmten Hand- und Griffbewegungen zu. Greift sie etwa nach einer Flasche Wasser, erkennt die intelligente Steuerung das und kann automatisch jeweilige Griffe oder Rotationen ausführen. Hier stellt sich die Prothese also auf den Menschen ein und nicht umgekehrt.

Selbst der große Wunsch vieler Amputierter, ihre künstlichen Gliedmaßen auch spüren zu können, liegt zukünftig im Bereich des Möglichen. Denn daran wird derzeit weltweit intensiv geforscht, auch bei Ottobock: „Dass man auf das sensorische Portfolio einer wirklichen Hand oder einer Fußsohle kommt, ist noch Utopie. Aber dass wir da näher kommen, halte ich innerhalb der nächsten acht Jahre für realistisch“, verrät der Science Officer.Trotzdem gleicht die Bewilligung solcher Prothesen offenbar oft einem Spießrutenlauf. Denn obwohl jeder Körperbehinderte einen gesetzlichen Anspruch auf bestmögliche Versorgung hat, ist deren Erstattung seitens der Kassen immer mit der persönlichen Nachweispflicht verbunden, dass Patienten durch sie einen Rehabilitationsvorteil haben. Mit Blick auf die Kosten lehne der Kostenträger diese Anträge gerne zunächst prinzipiell ab: „Die Bewilligung ist gerade bei neuen Produkten ein sehr langer Spießrutenlauf, so dass etliche Patienten bis zu den Sozialgerichten gehen und sich dort mit den Kostenträgern streiten müssen“, bemängelt Dietl. Hier kann man nur raten, sich nicht frustrieren zu lassen. Schließlich bedeutet neue Bewegungsfreiheit unmittelbar bessere Lebensqualität.
















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