
56 Jahre nach ihrer Gründung trägt die Björn Steiger Stiftung aktuell einen ihrer vermutlich größten Kämpfe aus. Im März 2025 reichte sie Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe ein. Darin fordert sie, systemische Missstände im Rettungsdienst in Deutschland zu beseitigen: „Seit Jahren bemängeln wir, dass das Rettungswesen in Deutschland deutlich hinter den internationalen Standards zurückbleibt“, erklärt Pierre-Enric Steiger, seit 2010 Vorsitzender der Stiftung.
Deshalb haben wir uns für den letzten möglichen Weg der Verfassungsbeschwerde entschieden.
Auf einen Punkt bringen lassen sich die einzelnen Kritikpunkte kaum, erklärt Steiger im Podcast der Stiftung. Die gesamte Struktur mit ihren 16 unterschiedlichen Rettungsdiensten, unterschiedlichen Hilfsfristen, kleinteilig aufgezogenen Leitstellen erschwere es, Menschenleben zu retten. Aber eben diesem Auftrag müsse das deutsche Rettungssystem gerecht werden. „Deshalb haben wir uns für den letzten möglichen Weg der Verfassungsbeschwerde entschieden.“
Jede Sekunde ein Notruf
Rund 13 Millionen Mal rücken Rettungsdienste in Deutschland jedes Jahr aus – Tendenz steigend. 2023 gingen täglich 84.000 Notrufe bei den Leitstellen ein, meldete die Deutsche Telekom, jede Sekunde werde einmal die 112 gewählt. Alle 112-Notrufe gehen über das Netz des größten deutschen Telefondienstanbieters. Wie schnell daraufhin die Rettungskräfte am Ort des Notfalls einzutreffen haben, geben die sogenannten Hilfsfristen vor, verankert in den jeweiligen Landesgesetzen. Sie unterscheiden sich teils deutlich. „In Nordrhein-Westfalen sind es innerorts acht Minuten, in Thüringen innerorts 14 Minuten“, erklärt Steiger. Eine fast zynische Situation: „Da muss man sich dann die Frage stellen: Halten die Menschen in Thüringen also länger durch?“
Wann und welche Hilfeleistung jemand im Notfall tatsächlich erhält, hängt vom Standort ab.
Es sind diese Ungereimtheiten, Unzulänglichkeiten, die Steiger aufregen. Die Bundesländer hätten die Hilfsfristen nicht mit medizinischen Evidenzen hinterlegt, die rettungsdienstliche Leistung sei bundesweit dem Zufall überlassen. „Wann und welche Hilfeleistung die Bürgerinnen und Bürger im Notfall tatsächlich erhalten, hängt vom Standort ab“, teils sogar von der Uhrzeit oder von der „Tagesform der Disponenten“, wie Steiger sagt. „Das sind zu viele Zufälligkeiten; aus denen müssen wir rauskommen.“
Außerdem: Jedes Bundesland, sogar fast jeder Landkreis könne seine eigene Rettungsdienststruktur aufziehen. Landkreisübergreifend könne damit kaum kooperiert, Fahrzeuge etwa nicht untereinander ausgetauscht werden. Zudem erkennen die Bundesländer die Qualifikationen untereinander nicht an: Ein in Hessen ausgebildeter Notfallsanitäter dürfe in Rheinland-Pfalz nicht als solcher arbeiten, sondern nur als Rettungssanitäter. „Wir vergeuden hier Ressourcen“, so Steiger.
Kleinteilige Leitstellenstruktur
Die Rettungsdienststruktur mit ihren etwa 400 Leitstellen sei zudem zu kleinteilig aufgezogen. „Wir haben in Deutschland mehr Leitstellen als alle EU-Länder plus Großbritannien, die Schweiz und Norwegen zusammen“, rechnet Steiger im Podcast vor. Viele Leitstellen seien nur mit ein oder zwei Personen besetzt, was dazu führt, dass die Mitarbeitenden bei Notfallanrufen häufig keine 15-minütige Reanimationsanleitung geben können. Die Leitung müsse ja freigehalten werden. Bei gut zwei Drittel der Anrufe, in denen die Leitstellenmitarbeiter eine solche Anleitung hätten geben sollen, sei die Hilfestellung unterlassen worden. Das habe eine Erhebung festgestellt. Steiger ist wichtig zu betonen, dass sich seine Vorwürfe nicht gegen die Mitarbeitenden, sondern ausschließlich gegen die Struktur richten. Und er verweist aufs Ausland: „Andere Länder arbeiten in Verbundstrukturen, da können Leitstellen sogar landesweit disponieren, teils sogar über Landesgrenzen hinweg.“
Andere Länder arbeiten in Verbundstrukturen, da können Leitstellen sogar landesweit disponieren.
Welche Folgen die deutsche Kleinteiligkeit hat, habe zuletzt die Amokfahrt Anfang März in Mannheim gezeigt, so Steiger. 76 Notrufe seien nach der Tat in kürzester Zeit in der lokalen Leitstelle eingegangen. Diese konnte jedoch Steiger zufolge nur 14 Notrufe annehmen, den Rest habe das System abgewiesen. Zurück blieb der Eindruck eines Massenanfalls von Verletzten. Großalarm wurde ausgerufen, Rettungswagen aus dem 80 km entfernten Heilbronn angefordert. Über Stunden fehlten diese Fahrzeuge und Fachkräfte an ihrem eigentlichen Stammplatz – und wurden letztlich in Mannheim gar nicht benötigt.
Ärztefunktionär Montgomery im Boot der Stiftung
Unterstützt wird die Stiftung von Frank Ulrich Montgomery, ehemaliger Präsident und heutiger Ehrenpräsident der Bundesärztekammer. „Es kann nicht sein, dass Menschen je nach Wohnort unterschiedliche Überlebenschancen haben“, sagt er. Als Mitglied im Präsidialrat der Stiftung fordert er eine bundeseinheitliche Struktur. Das Problem sei strukturell, nicht medizinisch, betont er im Podcast. „Wir wollen den Bund an seine Pflichten erinnern.“

Auch beim Qualitätsmanagement sieht die Stiftung Nachholbedarf. Leitstellen hätten kaum Stellen zur Qualitätssicherung, obwohl Notrufdaten wertvolle Hinweise zur Verbesserung liefern könnten.
Stiftung: Bund finanziert, Bund muss garantieren
Die Argumentationslinie der Stiftung gegen den Bund geht nun so: Der Bund finanziert über die Sozialversicherung die medizinische Infrastruktur des Landes – einschließlich der Notfallrettung. Damit habe er eine „Garantenstellung für die Notfallrettung“ inne. Die einzelnen Länder gestalten die Notfallrettung aus – indirekt finanziert über die gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Nun werde das gebotene Schutzziel nach Meinung der Stiftung aber weder flächendeckend noch im Sinne einer gleichmäßigen Qualität erreicht. „Die Qualitätsunterschiede verletzen den Anspruch insbesondere der GKV-Versicherten auf Gleichbehandlung“, so die Stiftung. Ob und wie weit der Bund hier tatsächlich in der Pflicht ist, müsste Karlsruhe klären.
Rettungsdienstgesetz angepasst
Exemplarisch für alle Bundesländer verklagt die Stiftung das Land Baden-Württemberg. Hier ist das Rettungsdienstgesetz (RDG) erst im letzten Jahr überarbeitet worden. Anlass war ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus dem Jahr 2023. Die Richter erklärten eine zentrale Regelung des Gesetzes – die sogenannte Hilfsfrist – für rechtswidrig. In der alten Gesetzfassung waren hierfür zehn bis 15 Minuten vorgesehen. In der Praxis aber wurde eine Planvorgabe von zwölf Minuten genutzt – ohne Legitimation durch den Landtag. Eine neue, rechtssichere Regelung musste her.
Im neuen Gesetz ist nun die Frist an die Planungsgröße von zwölf Minuten angepasst. Im selben Atemzug führten die Baden-Württemberger weitere Neuerungen ein. So ist etwa bei der Planung eine Prähospitalzeit zu berücksichtigen, also eine Zeitspanne, bis der Notfall in der richtigen Klinik ankommt. Zudem erhielten Notfallsanitäter mehr Befugnisse für Notfallmaßnahmen. Und nicht zuletzt ist ein telenotärztliches System vorgesehen: Notärzte sollen künftig Behandlungen telemedizinisch steuern, zum Beispiel auch über Entfernungen die Gabe von Schmerzmitteln anordnen können.
Ärztlicher Sachverstand sei damit künftig „virtuell in Echtzeit am Einsatzort verfügbar“, betont das Landesinnenministerium. Zwei solcher Telenotarzt-Standorte sollen dabei nach Vorbild anderer Bundesländer etabliert werden, einer in Ludwigsburg, ein weiterer in Freiburg. Noch laufen nach Angaben des Klinikums Ludwigsburg die Ausschreibungen und Vorbereitungen für den Aufbau. Der Telenotarzt soll dann in Zukunft von einer zentralen Stelle aus digital an den Einsatzort zugeschaltet werden können und dort die Vor-Ort-Kräfte unterstützen. Verschiedene Rettungsdienstverantwortliche begrüßten die Neuerungen: Sie würden „zu einer deutlichen Verbesserung in der Versorgung der Patienten führen“, sagt etwa Peter Neuhauser, Rettungsdienstleiter der Malteser in Baden-Württemberg.
Die Björn Steiger Stiftung sieht „viele Unzulänglichkeiten des Gesetzes“ und kritisiert insbesondere vermeintlich „fehlerhafte Vorgaben und veraltete Organisationsstrukturen“. Nach Ansicht der Stiftung seien Zuständigkeiten und Strukturen im Notfallmanagement „nicht umfassend geklärt“ und entsprächen nicht den internationalen Standards. Diese Vorwürfe stießen auf Gegenreaktion: Ein Sprecher des baden-württembergischen Innenministeriums erklärte, „der Björn Steiger Stiftung geht es vorrangig um den Bund“. Es sei bedauerlich, „dass die Björn Steiger Stiftung auch gegen das Land Baden-Württemberg eine Verfassungsbeschwerde einreicht, wenn sie in erster Linie den Bund meint.“ Das Land sei „zunächst“ nicht zur Stellungnahme aufgefordert worden; dies erfolge üblicherweise erst, wenn das BVerfG die Beschwerde zur Entscheidung annimmt.
Möglicher Wendepunkt
Florian Reifferscheid, Vorsitzender des Bundesverbands der Ärztlichen Notfall- und Akutmedizin (BAND), sieht in der Verfassungsbeschwerde einen möglichen Wendepunkt. Sollte das BVerfG der Beschwerde stattgeben, könnte das „die Notfallversorgung grundlegend beeinflussen“, sagt er gegenüber kma. Durch die föderale Struktur gebe es derzeit einen „Flickenteppich“ aus unterschiedlichen Hilfsfristen, Qualifikationen und Qualitätsstandards. „Gerade unterschiedliche Hilfsfristen sind medizinisch nicht erklärbar“, sagt der Oberarzt am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, der hier aber ausdrücklich nur für den BAND spricht. Hilfsfristen sollten bundesweit einheitlich definiert und in Bezug auf Notfallsituationen und deren Dringlichkeit gestaffelt werden. „So ist es bei einem Herzkreislaufstillstand wichtig, dass schnellstmöglich Rettungswagen und Notarzt, aber auch organisierte Ersthelfer am Patienten eintreffen.“
Unterschiedliche Hilfsfristen sind medizinisch nicht erklärbar und sollten bundesweit einheitlich definiert sein.
Eine ausgerenkte Kniescheibe auf dem Fußballplatz aber erlaube etwas mehr Zeit. „Die grundsätzliche Notwendigkeit festzustellen, diese Fragen national gleich zu betrachten, wäre die Veränderung, die eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache bewirken könnte“, sagt Reifferscheid.
Sollte Karlsruhe dem Anliegen der Stiftung folgen, käme auf Bund, Länder und Leistungserbringer eine große Aufgabe zu. Es wäre dem BAND-Sprecher zufolge eine „Herausforderung“, einheitliche Anforderungen wissenschaftlich fundiert und zugleich praxistauglich zu definieren. Dafür brauche es eine breite Einbindung aller Akteure entlang der gesamten Rettungskette – vom Notruf bis zur Weiterversorgung in Klinik oder ambulanter Struktur. Gleichzeitig böte sich auch eine große Chance: „Eine einheitliche Struktur würde neue Versorgungsformen ermöglichen“, so Reifferscheid. Maßnahmen wie etwa eine technische Zusammenführung der Notrufnummern 112 und 116117, eine Gesundheitsberatung durch eine Leitstelle oder einen verpflichtenden aufsuchenden Dienst könnten Kliniken und vor allem deren Notaufnahmen am Ende sogar entlasten.
Frank Flake, erster Vorsitzender des Deutschen Berufsverbands Rettungsdienst e. V. (DBRD), blickt mit einer gewissen Nüchternheit auf die juristische Initiative der Stiftung. Einige der angesprochenen Punkte, etwa die Hilfsfristen, lägen naturgemäß in der Verantwortung der Länder – und würden sich daher zwangsläufig unterscheiden. Er hält es für möglich, dass das BVerfG den Bund auffordert, eine Regelung zu treffen, um einheitliche Standards festzulegen. Flake: „Das würde bedeuten, dass der Rahmen bundesseitig festgelegt wird, die Ausgestaltung aber weiter bei den Ländern bleibt.“ Dass aber Qualitätskriterien, Standards oder gar eine bundeseinheitliche Hilfsfrist festgelegt werden könnte, hält der gelernte Notfallsanitäter, der den Rettungsdienst des Landkreises Oldenburg leitet, für „utopisch“. Und er sagt: „Grundsätzlich ist erst einmal abzuwarten, ob die Verfassungsbeschwerde überhaupt zugelassen wird.“ Die Annahme zur Entscheidung liegt im Ermessen des Gerichts.
Pierre-Enric Steiger von der Björn Steiger Stiftung stellt sich derweil auf ein langes Verfahren von bis zu fünf Jahren ein. Der grundsätzliche Impuls jedoch ist gesetzt: ein Anstoß zur Diskussion über Qualität, Gleichbehandlung und Verlässlichkeit im deutschen Rettungswesen.








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