
Keine Frage: Der Anfang der Legislaturperiode wurde – auch aufgrund der Schwerpunktsetzung von Minister Lauterbach und einer gescheiterten, kräftezehrenden Impfgesetzgebung – noch von Corona-Themen überschattet. Dafür geht es jetzt umso heftiger zur Sache, und es entsteht stellenweise der Eindruck, dass Ministerium, Kabinett und Parlament nicht mehr so ganz genau wissen, wie das alles zu schaffen sein soll und mit welcher Priorität die unterschiedlichen Vorhaben abgearbeitet werden müssten. Verzögerungen innerhalb wie außerhalb des Ministeriums führen schließlich dazu, dass Planungen und Projekte in einer Weise zusammen- und ineinander geschoben werden, die schwerlich ein gutes und abgestimmtes Ende erwarten lassen.
Nachfrage wächst, Angebot sinkt
Herausforderung Nr. 1 wäre es vor allem (und gerade im Gesundheitssystem), sich den Auswirkungen des demografischen Wandels zuzuwenden, der nicht nur eine alternde Bevölkerung und damit verbundene spezielle Gesundheitsbedürfnisse mit sich bringt. Auch Ärzte, Ärztinnen, Pflegekräfte und alle anderen Healthcare Professionals (HCP) werden nicht jünger, so dass der wachsenden Nachfrage an Gesundheitsleistungen ein sinkendes Angebot gegenüberstehen wird.
Dazu tritt die steigende Prävalenz chronischer Krankheiten. Auch wenn es sich dabei im Kern erstmal um eine gute Nachricht handelt – zeigt sie doch, dass es uns immer besser gelingt, ehemals tödliche Erkrankungen in chronische umzuwandeln –, stellt sich hier eine weitere ernsthafte Herausforderung, die eine langfristige Strategie zur Primär- und Sekundärprävention nach sich ziehen müsste. Und, vor allem, endlich mal die Umsetzung eines Behandlungssettings, das die Grenze zwischen Sektoren, Professionen und Disziplinen ebenso obsolet macht, wie es die adäquate Patientenversorgung erfordert. Um eine solche integrierte Versorgung zu ermöglichen, müssen in jedem Fall der medizinisch-technische Fortschritt und die Digitalisierung stärker in den Fokus genommen werden. Nur durch Vernetzung und Digitalisierung ist es möglich, eine qualitativ hochwertige Versorgung für die Patienten und Patientinnen zu gewährleisten.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach steht damit im Mittelpunkt einer wachsend notwendigen gesundheits- und versorgungspolitischen Neuausrichtung, und er trägt, wie alle Ministerinnen und Minister vor und vermutlich auch nach ihm, die Verantwortung, Lösungen für diese vielfältigen Herausforderungen zu finden.
Keine Ahnung und Ratlosigkeit
Sehen wir uns dazu mal einzelne Bereiche etwas genauer an. Stichwort ambulant-stationäre Schnittstelle: Dort wären die bereits im Koalitionsvertrag genannten Hybrid-DRGs ein wichtiges Instrument, um einen längst fälligen gemeinsamen Versorgungbereich zu etablieren. Aber mit der Aufgabe, einen entsprechenden Katalog zu erarbeiten, waren die Beteiligten der Selbstverwaltung aufgrund ihrer nachvollziehbaren unterschiedlichen Interessenlagen überfordert, und die vollmundig verkündete Ersatzvornahme des Ministeriums hat nun die selbstgesetzte Frist von Ende Juni / Anfang Juli souverän gerissen, so dass bis heute (Anfang Oktober) eine entsprechende Rechtsverordnung nicht vorliegt. Nicht schlimm vielleicht, wenn nicht gleichzeitig andere Reformbausteine eingesetzt werden, die auch diesen Bereich substanziell betreffen. Zum Beispiel die Etablierung einer sogenannten stationär-ambulanten Versorgungsebene 1i im Zuge der Krankenhausreform und der Katalog zum Ambulanten Operieren. Wie wird das künftig alles miteinander zusammenhängen? Keine Ahnung, und Ratlosigkeit bei den Akteuren, die nun auch langsam wissen müssten, auf welchen rechtlichen Grundlagen sie in die wirtschaftlichen Planungen für das Jahr 2024 gehen sollen.
Großbaustelle Digitalisierung
Im Bereich der Digitalisierung gibt es ebenfalls erheblichen Handlungsbedarf. Obwohl Gesetzentwürfe zur Digitalisierung und Nutzung von Gesundheitsdaten vorliegen, besteht die Sorge, dass sie nicht nahtlos ineinandergreifen und ein kohärentes Regelungskonzept ergeben. Die Einführung von elektronischen Patientenakten, elektronischen Rezepten, Datenschutzbestimmungen und neuen Zuständigkeiten für Krankenkassen und die Bundesdigital-Agentur erfordert eine sorgfältige Koordination. Darüber hinaus stehen weitere Themen auf der Agenda, darunter die Einführung von Gesundheitskiosken, die Regelung des Umgangs mit Cannabis und die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. All diese Herausforderungen erfordern eine umfassende und koordinierte Herangehensweise.
Das geplante Krankenhaustransparenzgesetz ist ein weiterer Punkt, der noch nicht abschließend geklärt ist. Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Einteilung von Krankenhäusern und Qualitätsindikatoren haben zu Verzögerungen geführt. Diese Unsicherheit und die fehlende Einigung verzögern die dringend benötigte Reform des Krankenhauswesens weiter. Einmal mehr zeigt jedoch der ganze Prozess, wie dringend eine Reform des deutschen Gesundheitssystems auf föderaler Ebene erforderlich ist, um solche Konflikte zu verhindern und die Effizienz der Versorgung zu verbessern. Es ist offensichtlich, dass unser derzeitiges föderales System in Bezug auf die Gesundheitspolitik an seine Grenzen stößt, und eine grundlegende gesundheitspolitische Föderalismusreform könnte der Schlüssel zu einer nachhaltigen Lösung sein.
Länder hinter die Fichte geführt
Das zwischenzeitlich vorgelegte Krankenhaustransparenzgesetz verkompliziert den ohnehin bereits anspruchsvollen Weg zur dringend benötigten umfassenden Reform des Krankenhauswesens. Denn die Bundesländer erkennen zweifellos, dass sie in diesem Fall hinter die Fichte geführt werden, indem der Minister nun nahezu alles, was in den Bund/Länder-Gesprächen als strittig offenblieb, als zustimmungsfreies Bundesgesetz regelt. Dieser Vorstoß verschärft damit die Fertigstellung eines umfassenden Krankenhausreformgesetzes zusätzlich. Ein bereits sichtbar gewordener, rudimentärer erster Entwurf wird nun noch längere Zeit benötigen, um den Weg in ein handhabbares Bundesgesetz zu finden.
Das Zwischenresümee zur Halbzeit: Die Frage bleibt, ob die Ampel-Regierung ihre beabsichtigten Ziele noch in dieser Legislaturperiode erreichen kann. Die strukturelle Veränderung des Gesundheitssystems und die Modernisierung des Sozialgesetzbuches V sind komplexe Vorhaben, die eine umfassende politische und gesellschaftliche Unterstützung erfordern. Die Überwindung der Sektorengrenzen und die Schaffung einer bedarfsgerechten, modernen Gesundheitsversorgung sind anspruchsvolle Ziele, die nicht ohne weiteres erreicht werden können.
Der 20. DGIV-Bundeskongress im November 2023 wird all diese unterschiedlichen Aspekte, Fragestellungen, Hoffnungen und Befürchtungen ausführlich erörtern und so weit wie möglich zu beantworten versuchen. Und zwar konstruktiv. Schließlich entstammen viele der nun in Rede stehenden gesundheitspolitischen Lösungsansätze dem DGIV-Mitgliederkreis (zu nennen sind unter anderem die Hybrid-DRGs und die Gesundheitskioske). Es liegt der DGIV also nichts daran, die jetzt im Koalitionsvertrag und vom Minister eingeschlagenen Wege zu diskreditieren. Aber fragen wollen wir uns im Rahmen des Kongresses natürlich schon, ob die Wege zur Umsetzung dieser richtigen Ziele ebenfalls die richtigen sind, und ob nicht vielleicht der frühzeitige Austausch mit den Beteiligten und Betroffenen hätte helfen können, einige steinige Steigungen auf diesem Weg zu vermeiden. Dazu sind die Hände nach wie vor austreckt: Auch in diesem Jahr wird der DGIV-Bundeskongress Praktiker und Politik verbinden und zum Gespräch zusammenführen.



