Georg Thieme Verlag KGGeorg Thieme Verlag KG
Georg Thieme Verlag KGGeorg Thieme Verlag KG

Sektoren vernetzenIntegrierte Versorgung neu denken

Angesichts des medizinischen Fortschritts und der gesellschaftlichen Entwicklung wird deutlich, dass die verschiedenen Grenzen der medizinischen Versorgung überwunden werden müssen. Digitalisierung ist hierzu ein Schlüssel.

Kreuz aus Holzwürfeln mit Symbolen der Gesundheitsversorgung
oatawa/stock.adobe.com
Symbolfoto

Historisch ist das deutsche Gesundheitssystem im Hinblick auf die strukturelle Organisation der Leistungserbringung und allgemeinen Zielerreichung durch einen stark sektorenspezifischen Ansatz geprägt, speziell die Trennung von ambulant-stationären medizinischen Leistungen sowie die Wahrnehmung der Aufgaben von populationsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst.[1] Grundsätzlich orientiert sich die Unterscheidung zwischen ambulant und stationär dabei an dem Ort der Erbringung der Gesundheitsleistung. Ist diese Taxonomie heute im Kontext des medizinischen Fortschritts der demokratischen Entwicklung noch zeitgerecht?

Im Allgemeinen wird die integrierte Versorgung hauptsächlich als eine Vernetzung oder Aufhebung der Trennung zwischen dem ambulanten und stationären Sektor verstanden. Die mit den Sektorengrenzen verbundenen Bruchstellen sind an sich hinlänglich bekannt.[2] Deren Überwindung stellt einen wesentlichen und wichtigen Ansatzpunkt zur Weiterentwicklung der Patientenversorgung sowie Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven dar.[3] Darüber hinaus sollte die integrierte Versorgung umfassender verstanden werden. Die folgende Definition der WHO zu integrierten Gesundheitsleistungen bringt es auf den Punkt: „Gesundheitsleistungen, welche so verwaltet und erbracht werden, dass die Menschen ein kontinuierliches Angebot an Gesundheitsförderung, Prävention, Diagnose, Behandlung, Krankheitsmanagement, Rehabilitation und Palliativversorgung erhalten, die über die verschiedenen Versorgungsebenen und -orte innerhalb des Gesundheitssektors und darüber hinaus koordiniert sind und ihren Bedürfnissen über den gesamten Lebensverlauf entsprechen.“[4]

Anhand der Definition der WHO wird folgendes deutlich: zu einer bedarfsgerechten und modernen Gesundheitsversorgung gehört mehr als nur die Erbringung von medizinischen Leistungen. Heutzutage sind die vor- und nachgelagerten Bereiche, wie Präventionsmaßnahmen in Schulen und Kindergärten oder die Rehabilitationsmedizin, als essenzielle Leistungsbereiche der Gesundheitsversorgung nicht mehr wegzudenken. Allerdings setzt diese Bandbreite an medizinischen Unterstützungsmöglichkeiten voraus, dass keine Bruchstellen zwischen den Lebenswelten der Patient*innen und den Leistungserbringern, als auch zwischen den unterschiedlichen Professionen der Gesundheitsversorgung existieren.

Medizinischer Fortschritt, Digitalisie­rung und intergrierte Versorgung

Im Hinblick auf die hierfür notwendigen strukturellen und konzeptionellen Voraussetzungen für die Ermöglichung einer solch gedachten integrierten Versorgung, müssen der medizinisch-technische Fortschritt und die Digitalisierung in den Fokus genommen werden.

Dabei ist die Digitalisierung Chance und Notwendigkeit zugleich. Sie kann das Bindeglied darstellen zwischen verschiedenen Leistungsbereichen, die fehlerfreie Weitergabe medizinischer Daten und die Koordination von Therapie und Diagnostik aus Patientensicht übernehmen (vgl. Abb. 1). Sie kann Verbindungen stiften, die früher höchst anfällig und gefährdend waren. Die positiven Auswirkungen der Digitalisierung auf Patientenseite und systemweite Effizienzrealisierungen sind nur möglich, wenn die beteiligten Versorgungsbereiche und -strukturen einen hohen integrierten Vernetzungsgrad aufweisen.[5] Verschärft ausgedrückt ist eine Digitalisierung im Gesundheitswesen ohne Vernetzung sinnlos und eine Vernetzung ohne Digitalisierung wirkungslos.

Praxisbeispiel: Versorgung von Krebspatient*innen

Für die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Versorgung für die Patient*innen ist eine Koordination und Intensivierung von wissenschaftlichen sowie praktischen Arbeiten auf den Gebieten zwischen den jeweiligen Fachdisziplinen – u.a. aus der Medizin, Pflege, Psychologie oder Physiologie –erforderlich. Dies soll im Folgenden beispielhaft an der Versorgung von Tumorpatient*innen dargestellt werden. Hierbei erfolgt die Behandlung in der Regel multimodal und benötigt sowohl eine langfristige als auch umfassend organisierte Zusammenarbeit unterschiedlichster Professionen.[6] Hierzu gehört beispielsweise die digitale Vernetzung mittels Tumorboards, in denen verschiedene medizinische Expert*innen – sowohl aus ambulanten und stationären Sektor – ihre Fachkenntnisse für eine gemeinsame Behandlungsempfehlung bündeln können als auch die beteiligten Fachgruppen und Patient*innen zusammenbringt.[7] Erste Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung zeigen, dass diese multidisziplinären Tumorkonferenzen die Diagnosesicherheit und klinischen Outcomes verbessern können.[8]

Verbandsnachrichten DGIV Juni 2023
IMG (UBT) Eigene Darstellung der Autor*innen
Abb. 1: Integrierte Versorgung als verbindendes Element medizinischer Versorgungsstrukturen

Neben den Vernetzungen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sind auch die Schnittstellen zur Prävention, Rehabilitation und Sozialmedizin von steigender Relevanz. Die Einbindung präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen bei der Behandlung onkologischer Erkrankungen können hierbei zu einer deutlichen Linderung von Begleit-, Spät-, Langzeitfolgen und Nebenwirkungen führen.[9] Ebenso sind in der onkologischen Nachsorge, die Bereitstellung aller notwendigen Informationen zur Weiterführung der Therapie unerlässlich, um Komplikationen bei auftretenden Nebenwirkungen zu vermeiden. Hierbei müssen an den Schnittstellen Patient*innen oftmals selbst aktiv werden, um den Fortgang ihrer Therapie zu recherchieren und zu organisieren. Dabei fehlen oft sektorenübergreifende Ansprechpartner*innen, deren Identifizierung durch wechselnde Zuständigkeiten der Sozialversicherungsträger und damit auch der Kostenträger erschwert wird. Dies kann dazu führen, dass Patient*innen aus der Klinik ohne feste ambulante Kontrolltermine oder Informationen zu weiterführenden Nachsorgemöglichkeiten (z.B. psychoonkologische Betreuung) entlassen werden. Insbesondere digitale Lösungen wie mobile Anwendungen (Apps) besitzen das Potenzial, die Patient*innen beim Selbstmanagement in der Vor- und Nachsorge zu unterstützen, z.B. mit Anleitungen zu Selbstuntersuchungen oder digitaler webbasierter Verlaufskontrollen.[10]

Der medizinische Fortschritt sowie die Digitalisierung ermöglichen nicht nur das Zusammenwachsen dieser Bereiche, sondern sie führen gewisse ineffektive Trennungen mit Hindernissen wie Sektorengrenzen ad absurdum. Wo zu früheren Zeiten eine Zusammenarbeit bzw. Überführung der unterschiedlichen Arbeitsschritte zu einem Prozess unmöglich war, überwinden digitale Arbeitswege die künstlich errichteten Grenzen im Sinne des Patientenwohls.

Ausblick: Patientenzentrierte Versor­gung als Ankerpunkt

Wie bereits erwähnt sind die heutigen Sektorengrenzen des Gesundheitssystems größtenteils historisch begründet und in diesem Sinne auch nachvollziehbar. Diese Grenzziehung wird den heutigen Bedürfnissen der Bevölkerung allerdings nicht mehr gerecht. In einem System der Fokussierung auf die Akutversorgung, waren chronische Patient*innen die Ausnahme – in Zukunft werden sie der Regelfall sein. Dabei können gerade chronisch kranke Patient*innen von einer stärkeren Zusammenarbeit und Vernetzung mehrerer vertikal geordneter Leistungserbringer im Versorgungsprozess profitieren.[11]

Literaturverzeichnis

[1] Busse R, Blümel M, Knieps F, Bärnighausen T (2017): Statutory health insurance in Germany: a health system shaped by 135 years of solidarity, self-governance, and competition. In: Lancet (London, England) 390 (10097), S. 882–897. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)31280-1.

[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2018): Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Bundesministerium für Gesundheit. Berlin. Online verfügbar unter www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2018/Gutachten_2018.pdf, zuletzt geprüft am 29.03.2023.

[3] DGIV (2018): Positionspapier 2018 - Zum Stand der Umsetzung des Versorgungsprinzips Integrierte Versorgung. Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. Berlin. Online verfügbar unter dgiv.org/wp-content/uploads/2022/06/DGIV-Positionspapier-2018.pdf, zuletzt geprüft am 29.03.2023.

[4] WHO (2016): Framework on integrated, people-centred health services. Provisional Agenda Item 16.1 at the 69th World Health Assembly (A 69/39). World Health Organization. Online verfügbar unter apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA69/A69_39-en.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2023.

[5] Spitzer S (2020): Mit integrierter Versorgung sektorale Schranken überwinden. In: Der Internist 61 (9), S. 903–911. DOI: 10.1007/s00108-020-00843-8.

[6] Schmitz S (2020): Intersektorale Versorgung in der Onkologie. In: Ursula Hahn und Clarissa Kurscheid (Hg.): Intersektorale Versorgung. Best Practices - erfolgreiche Versorgungslösungen mit Zukunftspotenzial. Wiesbaden, Heidelberg: Springer Gabler, S. 393–407.

[7] DGHO (2018): Gegenwart und Zukunft der Medizinischen Onkologie. Positionspapier. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V. Berlin. Online verfügbar unter www.dgho.de/d-g-h-o/ueber-uns/aufgaben-ziele/dgho_positionspapier_6-2018_web.pdf, zuletzt geprüft am 13.04.2023.

[8] Hermes-Moll K, Baumann W, Kowalski C, Ohlmeier C, Gothe H, Heidt V (2021): Multidisziplinäre Tumorkonferenzen in Deutschland. In: Monitor Versorgungsforschung, S. 61–65, zuletzt geprüft am 13.04.2023.

[9] Schmidt T, Süß P, Schulte D, Letsch A, Jensen W (2022): Supportive Care in Oncology-From Physical Activity to Nutrition. In: Nutrients 14 (6). DOI: 10.3390/nu14061149.

[10] Nationale Dekade gegen krebs (2023): Digitalisierung. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Online verfügbar unter www.dekade-gegen-krebs.de/de/krebsforschung/herausforderungen-fuer-die-krebsforschung/digitalisierung/digitalisierung, zuletzt geprüft am 13.04.2023.

[11] DGIV (2021): Positionspapier zur Bundestagswahl 2021 - Das deutsche Gesundheitssystem im Aufbruch. Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. Berlin. Online verfügbar unter dgiv.org/wp-content/uploads/2022/06/DGIV-Positionspapier2021.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2023.

2023. Thieme. All rights reserved.

DGIV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) ist ein deutschlandweit agierender Verein mit der Zielsetzung, die Integrierte Versorgung in der medizi-nischen, pflegerischen und sozialen Betreuung als Regelfall durchzusetzen. Die DGIV wurde am 26. September 2003 in Berlin gegründet. Ziel der Gründungsmitglieder war es, die Integrierte Versorgung als alternative Versorgungsform zur damaligen Regelversorgung zu entwickeln und letztendlich durchzusetzen.