
Der Überfall Russlands auf die Ukraine wurde nicht ohne Grund von Bundeskanzler Olaf Scholz als Zeitenwende bezeichnet und es liegt in der Natur der Sache, dass nach Zeitenwenden nichts mehr so ist, wie es vorher war. In diesem Lichte muss auch die anfängliche Aufbruchsstimmung gesehen werden, mit der sich die Koalitionspartner nach der Unterzeichnung ihres Koalitionsvertrages präsentierten. Nicht alles, aber doch sehr vieles sollte grundsätzlich neu werden, die Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie wurde versprochen, und auch im Gesundheitswesen schienen die Überwindung der Sektorengrenzen, die Integration der Gesundheitsberufe in unser ärztlich dominiertes System und die Freiheit der Akteure zu regionalen, praxisorientierten Versorgungskooperationen als Möglichkeit einer regional angepassten Regelversorgung in greifbare Nähe zu rücken. Bis hin zur Digitalisierung versprach ein gesundheitspolitisch eher „grüner“ Koalitionsvertrag Aufbruch und neues Denken in vielen Versorgungsbereichen.
Finanzierung und Reformvorhaben des Bundes im Fokus der Diskussion
Der gut besuchte und stark nachgefragte 19. DGIV-Bundeskongress beleuchtete all diese Themen in verschiedenen Formaten. Eröffnet wurde der Kongress mit dem Impulsvortrag von Sabine Dittmar, der eine lebhafte Diskussion über die aktuellen finanziellen Herausforderungen und die ansprechenden Ansätze des Bundesgesundheitsministeriums auslöste. In der anschließenden, eher kritisch bilanzierenden Gesprächsrunde mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Selbstverwaltung standen Themen wie die mangelnde Digitalisierung und die stagnierende Krankenhausplanung im Mittelpunkt. In den nachfolgenden Workshops wurden diese und weitere gesundheitspolitische Herausforderungen in fünf kleineren Workshops vertieft. Das Nachmittagspodium mit Ministerium und parlamentarischer Ampelbesetzung, das grundsätzlich positiv aufgenommen wurde, gab dem Kongress dann doch noch eine Wende in eine optimistisch stimmende Zukunft und versprach eine Krankenhausstrukturreform sowie weitreichende Reformen für die Vergütung und die ambulante Versorgung.
Weg zu barrierefreier Patient Journey ist noch weit
Damit hat der DGIV-Bundeskongress gezeigt, dass die eigentlichen Herausforderungen für die Umstrukturierung unseres Gesundheitssystems noch vor uns liegen. Die Überwindung sektoraler Grenzen und die Hinwendung zu einer sektorübergreifenden, interdisziplinären und interprofessionellen Patientenversorgung sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer barrierefreien “Patient Journey. Ein wichtiger Baustein in diese Richtung ist die Stärkung der Versorgung an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung.
Die schrittweise Überführung ursprünglich stationärer Leistungen in ein ambulantes Setting wird jedoch nur gelingen, wenn man die beiden bislang weitgehend getrennten Sektoren ambulant und stationär gleichberechtigt und „auf Augenhöhe“ gemeinsam denkt – und plant. Die zweite Stellungnahme zu der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ zur „Tagesbehandlung im Krankenhaus“ tut dies beispielsweise definitiv nicht. Sie denkt Ambulantisierung nur vom Krankenhaus aus und wird damit eher zu einem „Einkommenssicherungspapier“ für stationäre Einrichtungen als zu einem zukunftsweisenden Vorschlag für eine echte Überwindung der Sektorengrenzen (die ja – wie jede echte Grenzüberwindung – von zwei Seiten gedacht werden muss).
Bereits auf der zweiten Seite ihres Papiers rechtfertigt die Kommission, warum über alles, was eventuell im KV-Bereich abgerechnet werden könnte, nicht weiter nachgedacht werden muss: Es seien nämlich für viele der Maßnahmen „umfangreiche und komplexe medizinische Strukturen notwendig, wie sie üblicherweise nur ein Krankenhaus vorhält“. Das genügt offensichtlich, um den vertragsärztlichen Potentialen einer avancierten ambulanten Versorgung fürderhin keine weitere Beachtung schenken zu müssen. „Tagesbehandlung im Krankenhaus“ wird auf diese Weise automatisch als selbstverständlicher neuer Standard gesetzt.
Die Kommission hätte also gut daran getan, nicht „das Krankenhaus“ als selbstverständlichen Standard zu setzen, sondern zu überlegen, welche Leistungen nun eigentlich ambulant erbracht werden können, die bislang „traditionell“ an ein Krankenhausbett geknüpft waren. Und wer diese Leistungen nachweislich erbringen kann, darf sie dann selbstverständlich auch erbringen – und abrechnen. Das ist als Denkansatz eigentlich nicht so schwierig. Nach Ansicht der Kommission aber muss das alles erstmal im Krankenhaus ausprobiert werden. Die Gefahr massiver Fehlanreize oder auch der fortgeschriebenen Manifestierung falscher, krankenhausfixierter Strukturen kommt in den Kommissions-Überlegungen nicht vor und erhärtet den offenkundigen Befund, dass sich in ihren Reihen keine ausgewiesenen Spezialisten für vertragsärztliche Versorgungspotentiale finden. Das aber ist keine Überwindung der sektoralen Trennung, sondern die Ausweitung des einen Sektors in den anderen.
Wichtige Sektoren in Reformpapier nicht berücksichtigt
Schon nach dem Papier der vom BMG eingesetzten weitgehend Praktiker-befreiten Krankenhauskommission war klar, dass die Vorstellungen von Tageskliniken eher sinnlos sind. Die vertragsärztliche Versorgung wird völlig ignoriert, obwohl gut ausgestattete MVZ, digital kooperierende Ärztenetze und auch diverse Facharztpraxen sicherlich besser ausgestattet sind als so manches marode Provinzkrankenhaus. Schlimmer ist jedoch, dass sich sowohl die Krankenkassen als auch die Krankenhäuser einig sind, dass auf diese Weise absolut nichts eingespart wird: Das Pflegepersonal wird mehr gebunden als bisher, weil es mit der täglichen Aufnahme und Entlassung von Tagespatienten beschäftigt ist, und medizinisch gesehen sind die Einspareffekte ebenfalls gleich Null, denn Patienten, die nachts nach Hause entlassen werden können, würden natürlich auch im Krankenhaus die Nacht durchschlafen.
Dagegen stellt die Versorgungsstufe Ii (wer hat sich eigentlich diese Bezeichnung ausgedacht?) aus dem dritten Papier der Krankenhauskommission eine echte Chance dar, weil sie in der Lage ist, genau diesen Hybridbereich zwischen ambulant und stationär in einer zukünftigen Krankenhausreform abzubilden. Um dieser neuen Versorgungsstufe allerdings zum Durchbruch zu verhelfen, müssen noch einige keineswegs triviale Hürden aus dem Weg geräumt werden.
Zum einen muss das SGB V diese Stufe der Hybridversorgung überhaupt ermöglichen. Bislang werden ambulant und stationär vor allem durch die Abrechnungssysteme streng getrennt. Das muss sich ändern, und hier könnten die geplanten Hybrid- DRGs ein gangbarer Weg sein, wenn sie sich nicht ausschließlich an operativen Maßnahmen orientieren. Auch die nächtliche Überwachung eines (leichten) Notfallpatienten kann und sollte durchaus eine Hybridleistung sein. Zum Zweiten ruft ein solcher Bereich zwingend nach einer gemeinsamen Bedarfsplanung von ambulant und stationär. Dass hier an einem „Kerngeschäft“ der KVen gerüttelt wird, darf kein Hinderungsgrund sein, diese gemeinsame regionale ambulant/ stationäre Planungsverantwortung nicht endlich umzusetzen. Und drittens – und hier sind die Überlegungen der Krankenhauskommission bislang eher enttäuschend – müssen auch die Potentiale der ambulanten Versorgung zur Übernahme stationärer Versorgungsverantwortung ernst genommen werden. Warum soll nicht einem Ärztenetz eines dieser neuen intersektoralen Zentren zur medizinischen Verantwortung übergeben werden? Warum sollte nicht eine Gemeinschaft fachärztliche Spezialisten ein integriertes Facharztzentrum betreiben?
Jetzt und im Zuge der anstehenden Krankenhausreform wäre endlich der richtige Zeitpunkt, das SGB V systematisch durchzugehen und zu fragen, wo die Bremsen für eine echte sektorübergreifende Versorgung liegen. Die Beseitigung der grundlegenden Hemmnisse ist dabei auch eine politische Aufgabe, die ohne ein gemeinsames Vorgehen mit den Ländern nicht erfolgreich umgesetzt werden kann. Deshalb: Wenn wir diesen großen Bund-Länder-Dialog schon angehen, dann wäre es vielleicht an der Zeit, unser Gesundheitssystem grundlegend auf eine neue Basis zu stellen. Wenn ihm das gelingt, wird Karl Lauterbach in die Geschichtsbücher der Gesundheitspolitik eingehen.



