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KommentarReformen – im Geist der Kooperation

Gesundheitsminister Karl Lauterbach rühmt sich, „Interessengruppen“ vom Reformprozess fernzuhalten und stattdessen „der Wissenschaft“ zu folgen. Ein fragwürdiger Ansatz, denn es sind die Vertreter dieser so genannten Interessengruppen, die letztlich gemeinsam Patientinnen und Patienten versorgen.

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Monster Ztudio/stock.adobe.com
Symbolfoto

„Zeitenwende“ war der Begriff, den Olaf Scholz in seiner Rede anlässlich der russischen Invasion in der Ukraine verwendete, um eine grundsätzliche Veränderung der politischen Linie in der deutschen Verteidigungspolitik zu beschreiben. Nun ist das deutsche Gesundheitswesen zwar nicht mit feindlichen Mächten konfrontiert, dennoch ist die aktuelle Situation ebenso beispiellos. Auf der einen Seite stehen krisenhafte Szenarien: der sich deutlich zeigende demografische Wandel – sowohl patientenseitig aber auch auf Seiten der Fachkräfte –, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie auf die Performance des Systems, die Resilienz der Fachkräfte und eine kaum zu beherrschende Finanzierungskrise sowohl der gesetzlichen Krankenversicherung als auch der Leistungserbringer, die teils durch die genannten Themen angefacht wird.

Auf der anderen Seite zeigt sich ein Reformstau, der – endlich – in Bewegung gerät. Mittels schon beschriebener Konzeptvorschläge, wie sie ansatzweise im Koalitionsvertrag verankert sind, war den handelnden Akteuren ursprünglich Hoffnung gemacht worden, jetzt nach mehr als zwei Jahren scheint diese deutlich gesunken zu sein. Mit einem Blick auf wenige Beispiele zeigt sich die Problematik der mangelnden Zusammenarbeitsstrukturen deutlich. Das nach wie vor ungelöste Thema der ambulant-stationären Schnittstelle: Dort wären die bereits im Koalitionsvertrag genannten Hybrid-DRG ein wichtiges Instrument, um einen längst fälligen gemeinsamen Versorgungbereich zu etablieren. Aber mit der Aufgabe, einen entsprechenden Katalog zu erarbeiten, waren die Beteiligten der Selbstverwaltung aufgrund ihrer nachvollziehbaren unterschiedlichen Interessenlagen überfordert und die vollmundig verkündete Ersatzvornahme des Ministeriums konnte ihre selbstgesetzte Frist von Ende Juni / Anfang Juli nicht halten. Dies wäre noch insoweit zu tolerieren, würden nicht gleichzeitig andere Reformbausteine eingesetzt werden, die auch diesen Bereich substanziell betreffen und von einer derartigen Finanzierung abhängig sind. Zum Beispiel die Etablierung einer sogenannten stationärambulanten Versorgungsebene 1i im Zuge der Krankenhausreform und der Katalog zum ambulanten Operieren. Es macht den Anschein, als könnten die einzelnen Instrumente unabhängig voneinander etabliert werden, doch dies ist weit gefehlt, denn all diese sind Strukturen, um die Schnittstelle zwischen ambulant und stationär zu überwinden, nur um dies zu gewährleisten bedarf es einer passenden Vergütung. Daneben muss deutlich werden, auf welchen rechtlichen Grundlagen die handelnden Akteure in die wirtschaftlichen Planungen für das Jahr 2024 gehen sollen.

Im Bereich Digitalisierung sieht's nicht viel besser aus: Digitalisierungs- und Gesundheitsdatennutzungsgesetz liegen als Referentenentwürfe vor, doch man hat immer weniger den Eindruck, dass sich das alles mit elektronischer Patientenakte und elektronischem Rezept und datenschutzrechtlichen Vereinfachungen und neuen Versorgungskompetenzen für Krankenkassen, Bundesdigital-Agentur und Europäischem Gesundheitsdatenraum noch zu einem harmonischen, ineinandergreifenden und natürlich in gleicher Weise ambulant wie stationär anwendungsfähigen Regelungskonzept verbinden lässt. Neben diesen grundlegenden strukturellen Aspekten werden immer wieder Themen wie Gesundheitskioske, Cannabis und Öffentlicher Gesundheitsdienst (bzw. Institut für Public Health) oder Long Covid und Hitzeschutz medial diskutiert und dies mit wechselnden Prioritäten.

Bei der Betrachtung des Reformprozesses der Kernthemen verfolgt dieser stark eine politische Idee der Vergangenheit, nämlich die Gestaltung durch Anpassung von Parametern der Strukturqualität.

Bei der Betrachtung des Reformprozesses der Kernthemen verfolgt dieser stark eine politische Idee der Vergangenheit, nämlich die Gestaltung durch Anpassung von Parametern der Strukturqualität. Zu Recht kritisieren wenig beteiligte (Berufs-)gruppen wie z.B. die Krankenpflege diesen Prozess. Aber nicht nur die Pflege, die traditionell prozess- und patientenbezogen agiert, stört sich an einem zu wenig auf praktikable, prozess- bewusste Lösungen mit Blick auf den Patienten. Weitere Gesundheitsberufe, die überwiegend nicht beteiligt werden, sehen das mangelnde patientenzentrierte Vorgehen ähnlich kritisch. Auch bedingt der nicht primär aus einer intersektoralen Perspektive gedachte Prozess einen Mangel an Interprofessionalität und Interdisziplinarität – diese sind jedoch die Metaebenen des Patientenprozesses im „System“. Im Kontext der Versorgung ist das System verstärkt mit chronisch kranken Menschen konfrontiert. Nicht nur Diabetes, sondern auch diverse chronisch-degressive Herzerkrankungen, HIV oder auch viele onkologische Diagnosen sind in wachsendem Maße nicht mehr länger Todesurteile, denen Patienten und Ärzte machtlos gegenüberstehen, sondern lassen sich inzwischen unter größerer oder geringerer Einschränkung der Lebensqualität in einen Dauerzustand chronischer Erkrankung überführen. Für die Versorgung dieser Patienten sind genau die fehlenden Prozesse elementar, damit wir nicht mit vermeidbaren Fällen den stationären Sektor überlasten und so die oben beschriebene Situation negativ verstärken.

Wie kann das Gesundheitssystem jedoch verbessert werden, wenn die zuständigen Politikerinnen und Politiker nicht in den Dialog mit den Expertinnen und Experten gehen? Vor allem, wenn Sie nicht erst einmal eine Bestandsanalyse der gut funktionierenden Beispiele in den Regionen machen? Ärztenetze beispielsweise machen seit vielen Jahren regional gute Arbeit. Sie kümmern sich um die Versorgung, schaffen für sich Möglichkeiten, um als Netz Ärzte anstellen zu können, die sich wiederum gezielt um Pflegeheime kümmern. Warum soll nicht einem Ärztenetz eines dieser neuen intersektoralen Zentren zur medizinischen Verantwortung übergeben werden? Warum sollte nicht eine Gemeinschaft fachärztliche Spezialisten ein integriertes Facharztzentrum betreiben?

Ziel ist nach wie vor die Neuausrichtung des Gesundheitswesens und das sowohl unter Beachtung von einer Kombination aus soziologischer, ökonomischer
und medizinischer Ergebnisqualität.

Ziel ist nach wie vor die Neuausrichtung des Gesundheitswesens und das sowohl unter Beachtung von einer Kombination aus soziologischer, ökonomischer und medizinischer Ergebnisqualität. Einen hierfür passenden Reformprozess zu entwickeln, ist komplex, größtenteils mühsam und harmoniert nur begrenzt mit einem „Think Tank“-Ansatz, wie er in der Anfangsphase der Krankenhausreform vorlag. Einige könnten es für übertrieben detailliert halten, Überlegungen anzustellen, wie Verlegungsketten organisiert werden sollten, wenn bestimmte medizinische Dienste zentralisiert werden. Doch gerade in Bereichen wie der Neonatologie, wo die Verfügbarkeit von Muttermilch und die Nähe zum Kind als essentiell für Frühgeborene betrachtet werden, sind solche Überlegungen entscheidend. Diese prädiktiven Faktoren mit dem gleichzeitigen Wunsch nach notwendiger Zentralisierung hochkomplexer Versorgung in Einklang zu bringen, sind prozessorientierte Überlegungen, die eines vielfältigen Diskurses bedürfen.

In Zeiten von „vuka“-Bedingungen (volatil, unsicher, komplex und ambivalent), die wir spätestens seit Pandemie und Ukraine-Konflikt fast als gesellschaftlichen Normalzustand ansehen, wirkt das Ausarbeiten von Lösungen enorm aufwendig und erfordert viele Diskussionen mit sämtlichen beteiligten Akteuren. Zudem ist der durch Selbstinszenierung und mediale Dauerankündigungen subjektiv entwickelte Zeitdruck belastend. Dennoch ist es wichtig zum einen den unbequemen Weg über den so wichtigen Diskurs und Dialog mit den Beteiligten zu gehen und anschließend öffentlich dann über Reformen zu sprechen, wenn diese zu hohem Maße gereift sind und sich keine beteiligte Gruppe düpiert fühlt.

Genau solche Diskurse ermöglichen Verständnis, generieren Kompromisse und eröffnen neue Lösungsräume. Sie können auch eine Perspektive bieten, innerhalb welcher Rahmenbedingungen kompetente und motivierte Fachkräfte die Versorgung gemeinsam mit ihren Patienten frei gestalten können – ergebniszentriert, statt überreguliert. Dieses integrierte Arbeiten entspricht dem Leitbild einer Betrachtung des gesamten Patientenprozesses („Patient Journey“). In dieser Komplexität zeigen sich die Potenziale von Digitalisierung, Ambulantisierung, Patientenzentrierung und vor allem Prävention. Sie als Leitplanken für die zukünftige Versorgung zu sehen, ist nur im Diskursformat möglich, das, im besten Sinne Energie durch Reibung erzeugt. Energie, die nötig ist, um hinter eine Strukturreform auch konkrete Vorschläge für ein praktisches Gelingen zu setzen. In diesem Sinne ist auch die Suche nach einer ausreichenden Finanzierung in Zeiten des demografischen Wandels für das zukünftige Zusammenwirken im Solidarsystem essenziell. Kooperation und Kommunikation sind möglich – und die Anstrengung lohnt sich!

DGIV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) ist ein deutschlandweit agierender Verein mit der Zielsetzung, die Integrierte Versorgung in der medizi-nischen, pflegerischen und sozialen Betreuung als Regelfall durchzusetzen. Die DGIV wurde am 26. September 2003 in Berlin gegründet. Ziel der Gründungsmitglieder war es, die Integrierte Versorgung als alternative Versorgungsform zur damaligen Regelversorgung zu entwickeln und letztendlich durchzusetzen.