
Beim Beschluss zur Einführung des elektronischen Rezepts (E-Rezept) hatten die Verantwortlichen offenbar nicht alle verschiedenen Wege der Freigabe von Medikamenten im Blick. Dr. Peter Gocke, Leiter der Stabsstelle Digitale Transformation an der Charité – Universitätsmedizin Berlin: „Unsere Forderung ist deshalb, sich erst mit Abläufen in den Einrichtungen auseinander zu setzen und dann Vorgaben zu beschließen – nicht andersherum.“
Unsere Forderung bei Reformen ist, sich erst mit Abläufen in den Einrichtungen auseinander zu setzen und dann Vorgaben zu beschließen – nicht andersherum.
Viele Kliniken kämpfen nun regelrecht damit, das E-Rezept auszustellen. Auf den Stationen legen oft Ärzte in der Ausbildung die Rezepte an, die Fachärzte müssen sie freigeben. Bei der Chemotherapie ist das noch einmal anders: der Arzt verordnet die Therapie, die Krankenhausapotheke mischt die Medikamente zusammen. Dabei spielen viele Faktoren, wie Alter, Gewicht, Nierenfunktion etc. eine Rolle. Erst dann geht das Rezept zur Freigabe durch den Arzt. Die Freigabe hinterher widerspricht eigentlich den Funktionen des E-Rezeptes, ist aber aus Sicherheitsgründen nicht anders möglich.
Krankenhaussoftware, Apothekensoftware, verschiedenste Schnittstellen müssen zusammengebracht werden. „Zudem braucht man KIM (Kommunikation im Medizinwesen), um das Rezept per sicherer Mail von der Station zur Krankenhausapotheke zu bekommen“, so Gocke. Viele Ärzte sehen den Aufwand als zu hoch an oder es funktioniert nicht richtig.
2000 Kartenterminals und Hunderte Konnektoren
In der Charité nahm sich ein ganzes E-Rezept-Team der Sache an: Klinikapotheker, die hauseigene IT und zwei externe Softwarefirmen arbeiteten beinahe rund um die Uhr, um das E-Rezept zum Rollout zu bringen. Dabei lief nebenher immer ein funktionierendes Backup-System (Ausweichlösung), um bei Problemen jederzeit – auch partiell – auf das alte System zurückkehren zu können.
„Die Charité hat knapp 2000 Kartenterminals und hunderte Konnektoren im Vergleich zu einer Arztpraxis mit maximal drei Terminals“, sagt Enrico Schneemann. Der IT-Projektleiter weist auf die logistische Herausforderung hin. Der TI-Fachdienst der Gematik, Experten von Apothekensoftware, der Charité und des Klinikinformationssystem (KIS)-Anbieters – alle haben Hand in Hand gearbeitet, Ärzte und Klinik-Apotheker mit den richtigen Arbeitsmitteln ausgestattet. Viele verschiedene Software-Systeme auf den insgesamt vier Campi der Charité mussten unter einen Hut gebracht werden. Das Zusammenfassen war eine Meisterleistung.
Thomas Otto, Leiter Vertrieb Krankenhausapotheken bei der Noventi Healthcare GmbH, der von Anfang an bei der Einführung des E-Rezepts in der Fläche dabei ist, sagt: „Wir rechnen auch Offizinapotheken ab und seitdem Versicherte mit ihrer Karte in die Apotheke gehen, ist das Projekt schnell durchgestartet. Nur hier, bei unserem E-Rezept in der Klinik ist alles anders und eben komplizierter.“
Bei unserem E-Rezept in der Klinik ist alles anders und eben komplizierter.
Jan Fahrenkrog-Petersen, Klinikapotheker an der Charité, erläutert die Hürden, die die Kliniken zu nehmen haben. Viele Therapien erfolgen heute ambulant, das gelte auch für Zytostatika-Therapien. Wer vom Krankenhaus behandelt wird – auch ambulant – darf auch über die Krankenhausapotheke versorgt werden. Und: das Rezept muss auch über die Krankenhausapotheke abgerechnet werden. Fahrenkrog-Petersen: „Nur sieht der Patient eben das Rezept nicht und bekommt es auch nicht mit. Andererseits ist rechtlich vorgeschrieben, dass für den Patienten alles transparent sein muss. Dazu kommt, dass viele Therapien aus einem Mix an Medikamenten von zuhause und welchen aus der Klinik bestehen. Es hat gedauert, bis die Gematik dieses Problem erkannt hat.“
Auch Lieferwege seien zu Beginn nicht berücksichtigt gewesen. Häufig würden Patienten zum Beispiel Infusionstherapien über vier Stunden in der klinikeigenen Ambulanz bekommen. Die Medikamente dafür werden in der Klinikapotheke bestellt. Trotzdem bekommen sie auch noch Rezepte für Medikamente, die zuhause einzunehmen sind. Die Experten der Charité haben sich dann eng mit allen Beteiligten beraten und einen Weg gefunden, wie das E-Rezept bei voller Transparenz für den Patienten abgerechnet werden kann.
Direktzuweisung versus freie Apothekenwahl
Ein Problem ist die Direktzuweisung von der Ambulanz an die Apotheke, erklärt Schneemann. „Früher gab es zwei Stapel, einen per Hauspost intern und der andere für Rezepte, die dem Patienten mitgegeben wurden. Jetzt muss alles zusammengeführt werden für die Abrechnung.“ Die Systeme müssten auf Arztseite sicherstellen, dass das Medikament direkt zugewiesen ist.
Dort gäbe es aber wieder ein rechtliches Problem der Zulässigkeit, so Fahrenkrog-Petersen. Denn die freie Apothekenwahl des Patienten müsse dabei zum Teil eingeschränkt werden. „Ich kann den Patienten nicht mit hochwirksamen Medikamenten, die auch noch eine bestimmte Lagertemperatur brauchen, in der U-Bahn sitzen lassen, damit er alles aus einer Apotheke seiner Wahl holt.“
Im neuen Rollout sind nun alle fachlichen, technischen und rechtlichen Aspekte der verschiedenen Stakeholder „einprogrammiert“. Die Sicherheit des Systems ist enorm hoch, die Daten werden jetzt automatisch direkt in die Patientenakte übertragen.
„Dies zeigt, dass das E-Rezept und die Abrechnung ein wichtiger Baustein auch für die ePA sind“, so Otto. Das eine funktioniere ohne das andere nicht richtig. Dazu käme, dass viele Patienten auch zeitgleich in verschiedenen Fachrichtungen behandelt würden oder sehr seltene Erkrankungen hätten. All das deckt der Pilot jetzt ab. Auch Rücküberweisungen werden einwandfrei erfasst.
Rezeptanforderung, Signatur, Abrechnung
Klinikapotheken erhalten das E-Rezept zur Abrechnung wie im sogenannten „Workflow 169“ spezifiziert. Die Kombination aus standardisierter E-Rezept-Lösung und KIS-unabhängiger Signatursoftware bringt Flexibilität für die Kliniken. Denn bei dem E-Rezept ging es eben nicht nur darum, das Papierrezept zu digitalisieren, sondern „die gesamten Prozesse in der Klinik, die damit verbunden sind, effizienter zu gestalten“, erklärt Zarmal Kashefy, Produktmanager und Projektleiter im Geschäftsbereich Krankenhausapotheken-Abrechnung bei Noventi.
Bestehende analoge manuelle Prozesse, die vielerorts heute noch zu Fuß und per Fax innerhalb der Kliniken erledigt werden, mussten digitalisiert und in Schnittstellen „verpackt“ werden – von der Anforderung bis zur Abrechnung des E-Rezeptes. Der Workflow 169 sorgt nun für sichere und effiziente digitale Verordnungen in den Kliniken. Die Ärzte erhalten zur Verordnung eines Rezepts eine Vorlage über KIM zum Ausfüllen. Damit läuft das Ganze als Direktzuweisung, kann nicht versehentlich zum Patienten oder in die falsche Apotheke gelangen.
Auch Oracle Health ist mit seinem KIS an dem Projekt der Charité beteiligt. Als KIS-Hersteller und zertifiziertes Verordnungssystem will Oracle nicht nur den Standard-Ausstellungsprozess von E-Rezepten abdecken, sondern auch die im Alltag herrschenden innerklinischen Prozesse und die am Prozess beteiligten verordnenden Ärzte unterstützen. Dazu werden die von der herstellenden Apotheke eingehenden Rezeptanforderungen automatisiert empfangen und dem entsprechenden Patienten und Behandlungsfall im System zugeordnet. Den verordnenden Ärzten werden die entsprechenden Anforderungen anschließend in ihrer digitalen Arbeitsmappe für Arzneimittel vorgelegt, wo diese nach dem Signaturvorgang zu E-Rezepten werden. Nach erfolgreichem Ausstellen als E-Rezept, wird die Rezeptanforderung wieder automatisiert per KIM an die anfordernde Apotheke gesendet.
E-Rezept in Praxis und Klinik
Seit 1. Januar 2024 müssen Ärzte und Apotheken das E-Rezept nutzen. Versicherte erhalten verschreibungspflichtige Arzneimittel nur noch per elektronischer Verordnung und können diese mit ihrer elektronischen Gesundheitskarte (eGK), per App oder per Papierausdruck einlösen. Händische Unterschriften und Papierverordnungen entfallen, Folgerezepte können ohne erneuten Patientenbesuch ausgestellt werden. Das Medikamentenmanagement ist verbessert. Auch den Apotheken erleichtert das Einlösen mit der eGK den Arbeitsalltag.
Um von niedergelassenen Ärzten ausgestellte Rezepte elektronisch empfangen und einlösen zu können, benötigen gesetzlich Versicherte die mobile Anwendung (App) für das E-Rezept der Gematik. Diese können sie in den gängigen App Stores sowie auf der Gematik-Webseite herunterladen. Versicherte können das E-Rezept vor Ort in einer Apotheke ihrer Wahl oder auch in einer Online-Apotheke einlösen.
E-Rezepte aus den Ambulanzen der Kliniken und Entlass-Rezepte der Stationen gehen auf gleichem Wege an die Patienten. Bei kritischen Arzneien, z.B. speziell auf den Patienten zugeschnittenen Zytostatika, erfolgt eine Direktüberweisung der Medikamentenverordnung auf elektronischem Wege zur Klinikapotheke. Ist die Arznei angemischt, muss der Arzt (elektronisch) unterschreiben. Hier entfällt die freie Apothekenwahl für den Patienten.
Charité als Leuchtturm für das E-Rezept
Das E-Rezept wurde in der Charité unter „Echtzeitbedingungen“ getestet, am Anfang standen die Fertigarzneien. Per Stufenplan gingen die Entwickler später zu den individuell hergestellten Zytostatika-Rezepturen über. Derzeit kommen immer mehr Fachbereiche und Ambulanzen dazu. Die Charité ist beim E-Rezept ein Leuchtturm für weitere Kliniken und auch für die ambulante Versorgung.
Doch ein technisch einwandfrei umgesetztes E-Rezept funktioniert nur so gut, wie man die Mitarbeitenden mitnimmt. „So ein Change in der Klinik ruft bei vielen Ängste hervor, Angst, etwas falsch zu machen, Angst überflüssig zu sein, Angst, zu lange zu brauchen“, sagt Fahrenkrog-Petersen. Davon seien auch jüngere Mitarbeitende betroffen, nicht nur die Älteren. Einig sind sich alle – von der Apotheke über die IT bis zu den Fachbereichen – dass die Einführung des E-Rezepts Teamarbeit ist. „Da geht es schließlich um echte Patienten“, sagt Otto, „und nicht um irgendetwas am Reißbrett Entworfenes.“
Wir sind immer noch im Pilotbereich, das muss man kommunizieren und die richtigen Bereiche für den Start auswählen.
Die Umsetzung des E-Rezepts an der Charité war sehr komplex, denn pro Jahr gibt es hier knapp 800 000 Fälle und zusätzlich Rezepte für die „normale“ Apotheke. „Wir sind immer noch im Pilotbereich, das muss man kommunizieren und die richtigen Bereiche für den Start auswählen“, erklärt Matteo Schiffer, Charité-IT-Projektmanager. Und: Zur Not, wenn etwas gar nicht funktioniert, müsse man jederzeit auf die alte Rezept-Form zurückspringen können.
Viele Krankenhäuser sind bei der Einführung des E-Rezeptes auf sich allein gestellt. Sie berichten, dass ihr KIS-Anbieter noch keine funktionsfähige Lösung anbieten könne. Obwohl eine Einheitlichkeit des E-Rezept-Weges für alle Kliniken angestrebt werde, könne man, wenn nichts anderes geht, „mit Alternativen, die TI-konform sind und mit KIS funktionieren, arbeiten“, sagt Kashefy.
Für das Feintuning, welches jetzt läuft, brauche man viel Geduld und starke Nerven, betonen Mitarbeitende und Klinikapotheker der Charité unisono.










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