
Kennen Sie den englischen Begriff „Fair Value“? Man findet ihn hauptsächlich im angelsächsischen Rechnungswesen, aber auch im Wertpapierhandel. Dort beschreibt er den Preis, zu dem ein Finanzinstrument zwischen zwei unabhängigen Parteien frei gehandelt werden würde. Gemeint ist damit nichts anderes als der reguläre Marktpreis. Üblicherweise bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis. Den Fair Value zu bestimmen, ist also immer dann besonders einfach, wenn es einen regulierten Markt wie beispielswiese bei Aktien gibt. Ist dies nicht der Fall, lässt sich der reguläre Marktpreis durch Vergleiche herleiten. Das kennen Sie vielleicht aus dem Privaten, wenn Sie einen gebrauchten Gegenstand über ein Portal für Kleinanzeigen verkaufen wollen und erst einmal schauen, was andere Verkäufer für Preise aufrufen. Geben beide Methoden keinen Aufschluss über den Fair Value, wird es schwieriger und vor allem intransparenter, einen Marktpreis zu bestimmen.
Der Grund für meinen kleinen Exkurs in die Finanzwelt ist Folgender: Ich frage mich in letzter Zeit immer häufiger, was der Fair Value der Digitalisierung im Gesundheitswessen eigentlich ist.
Auf die Motive kommt es an.
Damit Sie verstehen, was mich beschäftigt, lassen Sie uns ein kleines Gedankenexperiment wagen: Einen regulierten Markt für Digitalisierung im Sinne des Aktienmarktes gibt es nicht. Allerdings können wir getrost festhalten, dass die Nachfrage branchenübergreifend riesig, das Angebot an Lösungen, IT-Experten und -Beratern hingegen überschaubar ist. Ergo: Digitalisierung hat ihren Preis. Was wir allerdings als Bewertung eines Fair Value der Digitalisierung heranziehen können, ist der Vergleich. Also beispielsweise, wenn Leistung X 50 000 Euro kostet, sollte sich die vergleichbare Leistung Y in einer ähnlichen Preisspanne bewegen und Leistung Z, die deutlich aufwendiger ist, darf über dem Preisniveau von X liegen.
Wenn aber Leistung A plötzlich doppelt so viel kostet, wie Leistung B, obwohl für A im Verhältnis zu B nur ein Bruchteil des Aufwandes nötig ist, wird es interessant. Dann nämlich muss man die Motive hinter der Preisbildung analysieren und die – soviel kann ich vorwegnehmen – sind nicht immer schön.
Preis als Marktschranke
In der Volkswirtschaft gibt es den Begriff der Marktschranken oder englisch „barriers to entry“. Gemeint sind damit verschiedenste Methoden – von Staaten, Branchen oder auch Unternehmen –, die Hürden für potenzielle Wettbewerber möglichst hoch zu halten, sodass die Unternehmen der eigenen Volkswirtschaft, Branche oder eben man selbst einen möglichst großen Marktanteil, wenn nicht sogar ein Monopol, behält. Wenn wir uns die Möglichkeiten von Unternehmen anschauen, Marktschranken zu errichten, ist vor allem der Preis ein besonders erfolgsversprechender Hebel, die Konkurrenz abzuhängen. Die Volkswirtschaft sprich hier von einem Grenzpreis, der es für die Konkurrenz oder den Kunden unattraktiv macht, Produkte anzubieten oder zu kaufen.
Genau das lässt sich aktuell im Gesundheitswesen beobachten. Sicherlich lassen sich aber auch in vielen anderen Branchen, in denen die Digitalisierung in vollem Gange ist, zahlreiche weitere Beispiele für diese Praktiken finden. Besonders effektiv ist es mit Blick auf die Digitalisierung nämlich, das eigene Produkt marktgerecht zu bepreisen, die Preise für Schnittstellen dann aber wesentlich höher anzusetzen. Schließlich würden sie Produkten anderer Hersteller Zugang verschaffen, respektive könnte der Kunde die besten Lösungen am Markt kombinieren. Der Fachbegriff hierfür lautet „Best of Breed“.
Das heißt konkret: Unternehmen machen die Öffnung ihrer eigenen Lösung für Drittanbieter über den Preis dermaßen unattraktiv, dass die Kunden sich zwangsläufig entscheiden, alles aus einer Hand zukaufen oder es eben sein zu lassen. Für das Unternehmen, das diese Marktschranke über den Preiskünstlich kreiert, mag das kurzfristig attraktiv sein. Für den Kunden ist es das vielleicht auch schon kurzfristig nicht – dann nämlich nicht, wenn er sich mit der Lösung des Unternehmens, das die Marktschranke geschaffen hat, nur für die zweitbeste Lösung entscheiden muss.
Der Best-of-Breed-Strategie gehört die Zukunft
Was solche Grenzpreise in jedem Fall sind: deutlich zu kurz gedacht. Denn wir erleben die Digitalisierung ja nicht erst seit gestern. Und Fakt ist nun einmal, dass sich langfristig nur die besten Lösungen durchsetzen. Und das ist gut so. Allerdings bedeutet es in manchen Fällen auch, dass Unternehmen, die bisher eine starke Position am Markt hatten, diese verlieren, wenn sie sich nicht anpassen. Beispiele hierfür gibt es viele: Osram, Nokia oder Fuji Film, um nur ein paar zu nennen. Übrigens interessante Beispiele, weil jede der drei Firmen ganz unterschiedlich mit dem Wegfall ihres Kerngeschäfts umgegangen ist.
Worauf ich jedoch hinaus will: Marktgrenzen verhindern langfristig nicht, dass sich der Fortschritt oder die beste Lösung durchsetzen. Sie verlangsamen Innovationen jedoch deutlich – etwas, was wir uns mit Blick auf die IT im Gesundheitswesen im „Entwicklungsland“ Deutschland definitiv nicht leisten können. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Digitalisierung ohne Interoperabilität ist Rückschritt. Was wir brauchen, ist eine Best-of-Breed-Strategie.
Das ist jetzt keine neue Erkenntnis, was beispielsweise der Grund dafür ist, dass die Gematik mit ihrem Bestätigungsverfahren IsiK dafür sorgt, Schnittstellen zu Krankenhausinformationssystemen und KOMServern zu öffnen und zu standardisieren. Sie ist Grund dafür, dass im KHZG ausdrücklich nur etablierte und die jeweils besten Lösungen zum Einsatz kommen sollen.
Keine Zeit für Experimente
Unternehmen, die heute noch versuchen, mit Grenzpreisen Marktschranken zu erreichten, den kann man eigentlich nur eines sagen: Ihr habt die Zeichen der Zeit nicht erkannt! Wir brauchen im digitalen Gesundheitswesen von morgen keinen Monolith, sondern blühende Landschaften, die miteinander harmonieren, sich ergänzen, Mehrwert schaffen. Man kann versuchen, den Fortschritt aufzuhalten und ihn künstlich hinauszuzögern, nur wird es nicht gelingen. Schlauer wäre es, sich in dieser aktuellen Phase der Digitalisierung mit dem KHZG im Rücken auf die eigenen Stärken zu besinnen und überall da, wo es bessere Lösungen gibt, den Zugang zu öffnen. Ich habe es schon oft gesagt und sage es wieder: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein Gemeinschaftsprojekt – und zwar eines mit immensem Potenzial! Angst davor zu haben, dass sich andere die Rosinen herauspicken, muss man da wahrlich nicht haben.





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