
Erst 2018 haben Mediziner der Charité nachgewiesen, dass auch beim Menschen kurz vor dem Tod die sogenannte terminale Streudepolarisierung eintritt. Zuvor war man davon ausgegangen, dass dies nur bei Tieren der Fall ist. Wird das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt, stellt es bekanntlich schon nach wenigen Sekunden seine Aktivität ein – quasi als Energiesparmodus. Sind die letzten Reserven aufgebraucht, bricht das Spannungsgefälle zwischen den Nervenzellen und ihrer Umgebung zusammen. Dadurch entsteht kurz vor dem Tod eine elektrochemische Entladungswelle, die wie ein Tsunami durch das Gehirn fegt.
Ich finde dieses Bild sehr spannend. Ein letztes Mal wird alles an Energie freigesetzt, was zur Verfügung steht – bevor es eben zu Ende ist. Und ich frage mich, ob es das ist, was wir aktuell im Gesundheitswesen erleben.
Corona hat vieles verändert
Warum mir dieser Vergleich in den Sinn kommt, ist leicht erklärt: Die Corona-Jahre haben eine bisher nicht da gewesene Bewegung ausgelöst. Zum einen sind die Auswirkungen der Multi-Krisen vor allem auf wirtschaftlicher Ebene nicht wegzudiskutieren, zum anderen ist der Digitalisierungsdruck mit und nach Corona exorbitant gestiegen.
Und deshalb spüren wir auch in allen Bereichen des Gesundheitssektors einen extrem starken Veränderungsdruck, den das Bundesgesundheitsministerium mit den zahlreichen Reformen und Gesetzen jetzt sogar noch verstärkt. Ob die Maßnahmen, die dort derzeit geplant und in die Umsetzung gebracht werden, gut oder schlecht sind, will ich an dieser Stelle gar nicht beurteilen. Das hier jedoch eine Art Tsunami über das Gesundheitswesen hinwegfegt, der zunächst an anderer Stelle als kleine Welle belächelt wurde, ist nicht wegzudiskutieren.
Wer einen Beweis braucht, sollte sich einfach die Dynamik anschauen, die wir aktuell bei Krankenhausinformationssystemen erleben – einem Segment, bei dem vor 24 Monaten wohl kaum jemand an so etwas wie Dynamik geglaubt hätte. Die Entscheidung von SAP, i.s.h.med abzukündigen, war der Anfang, der aus einem bis dato „stillen“ oder sagen wir lieber unbeweglichen Markt ein sehr turbulentes Gewässer gemacht hat.
Kommt sie, die Veränderung, oder muss sie kommen?
Was wir derzeit erleben, ist klassisch das, was die Rockband Scorpions in ihrem Neunziger-Hit als „Wind of Change“ betitelt. Ich habe nur den Eindruck, dass sich das Gesundheitswesen noch nicht einig ist, ob diese Veränderung etwas Positives ist oder doch eher das große Übel. Und genau hier liegt aus meiner Sicht eine große Gefahr. Eigentlich wissen wir alle, dass wir uns das Gesundheitssystem, so wie es aktuell ist, einfach nicht mehr leisten können. Andererseits gehen immer mehr Vertreter der verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens auf die Straße, um vor allem am Status Quo festzuhalten.
Hierzu habe ich eine kleine, nicht-repräsentative Umfrage auf meinem LinkedIn-Kanal gestartet und die Ergebnisse aus meinem Netzwerk haben mich ehrlich überrascht. Folgende Fragen habe ich gestellt: Ärzte streiken, Apotheker protestieren – die Politik von Bundesgesundheitsminister Lauterbach stößt dieser Tage auf heftige Kritik. Die große Frage ist: Warum? Sehen wir hier ein letztes Aufbäumen vor der großen Veränderung oder gehen die Reformvorschläge tatsächlich in die falsche Richtung? Verdienen Ärzte und Apotheker im Vergleich zur erbrachten Leistung zu wenig oder geht es nur darum, dass das eigene Stück Kuchen groß genug ist?
Tatsächlich waren 39 Prozent der Meinung, dass die aktuellen Streiks ein „Aufzeigen von Missständen“ seien, zwei Prozent glauben sogar, sie seien ein „wichtiger Protest“. 46 Prozent sagen, es sei nur der „Versuch, Strukturen zu schützen“. 14 Prozent sehen die Streiks als „Aufbäumen vor der Disruption“.
Gesundheitswesen gespalten
Die Kommentarfunktion hat leider niemand genutzt – in die Diskussion wäre ich gerne gegangen. Die Ergebnisse geben dennoch einen Eindruck davon, wie gespalten die Meinungen dieser Tage sind. Und das ist aus meiner Sicht fatal. Denn selbst wenn es uns gelingt, den kleinstmöglichen Kompromiss zu finden und damit die Veränderungen so gering wie möglich zu halten, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir von anderswo neugestaltet werden. Jetzt hätten wir es noch in der Hand, ich fürchte nur, dass es zu lange dauern könnte, einen Konsens zu finden, um die Chance zu ergreifen, selbst zu gestalten.
An dieser Stelle zitiere ich Friedrich Wilhelm Nietzsche aus „Der Wanderer und sein Schatten“: „Man vergisst über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.“
Die Frage, die wir uns jetzt stellen sollten, ist die nach dem Warum? Was wollen wir erreichen? Was ist das Ziel? Ich habe den Eindruck, dass nicht immer klar ist, dass es zwar noch eine Weile möglich ist, am Status Quo festzuhalten, wir aber langfristig auch die Punkte angehen müssen, die schmerzhaft sind. Und das sind nun einmal die auf Sektorgrenzen fokussierten Bezahlmodelle, mit denen an ein auf die Patienten ausgerichtetes Gesundheitswesen undenkbar ist. Aus meiner Sicht ist die Marschrichtung eigentlich klar: digital vor ambulant, ambulant vor stationär und vor allem ein viel stärkerer Fokus auf Prävention. Nicht reparieren, ausbessern, sondern gesunderhalten.
Und damit bin ich wieder bei unserem Wunderwerk, dem Gehirn. Denn das Phänomen der „elektrochemischen Tsunamis“ ist bis zu einem bestimmten Punkt reversibel, fanden die Mediziner der Charité heraus. Selbst bei Patienten mit mehreren dieser Wellen konnten sich die Nervenzellen wieder vollständig erholen – wenn die Blutversorgung rechtzeitig wiederhergestellt wurde. Sollten wir dann nicht auch analog im übertragenen Sinne die Blutzirkulation im Gesundheitswesen wiederherstellen? Damit dieses Aufbäumen, das wir gerade erleben, kein Vorbote auf ein langsames Sterben ist, sondern wir Herr unserer Sinne bleiben. Damit wir nicht an irgendwelche „externen“ Maschinen angeschlossen werden, die dann über das Gesundheitswesen bestimmen, und wir nur noch zugucken können, teilnahmslos, unfähig, noch viel selbst zu bestimmen.





Derzeit sind noch keine Kommentare vorhanden. Schreiben Sie den ersten Kommentar!
Jetzt einloggen