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KommentarBye bye Whataboutism

Was andere machen, sollte uns egal sein, es sei denn, es ist ein Ansporn, die Zukunft des Gesundheitswesens positiver zu gestalten. Ansonsten gilt: Das Beste aus den Rahmenbedingungen machen oder sie nachhaltig verändern.

Admir Kulin
m.Doc GmbH
Admir Kulin, Gründer und Geschäftsführer der m.Doc Gmbh.

Vergangene Woche wurde mir in einer Diskussion „Whataboutism“ vorgeworfen und ich muss ehrlich gestehen: Ich habe es erst gar nicht verstanden, musste mich mit dem Begriff beschäftigen. Und dann kam die Erkenntnis, ich habe tatsächlich abgelenkt. Anstatt auf argumentativer Ebene zu bleiben, kam von mir ein „Ich kenne aber XY, die sich noch schlimmer verhalten.“ Whataboutism par excellence.

Und kennen Sie das Phänomen der Frequenzillusion? Das ist eine kognitive Verzerrung, die beeinflusst, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Wer beispielsweise damit liebäugelt, sich ein neues Auto zu kaufen, sieht plötzlich auf der Straße besonders viele Fahrzeuge desselben Modells. Geprägt hat den Begriff der US-Linguistik-Professor Arnold Zwicky 2005 an der Stanford Universität. Wenn wir etwas Neues lernen oder erfahren, sind wir sensibilisiert und bemerken es schlicht häufiger – eben eine Frequenzillusion.

Nicht häufiger, aber häufig

Nun ist mir natürlich klar, dass seit meiner „Sensibilisierung“ vergangene Woche der Whataboutism im Gesundheitswesen nicht zugenommen hat. Dennoch hat mir die Diskussion verdeutlich, wie oft er als Totschlagargument dieser Tage eigentlich verwendet wird. Und das ist irgendwie auch nur logisch und eigentlich positiv zu werten. Denn er unterstreicht, dass gravierende Veränderungen im Gange sind. Diejenigen, die auf den Whataboutism zurückgreifen, versuchen schlicht, den damit notwendigen, ehrlichen und offenen Diskurs im Keim zu ersticken, um an ihrer Wirklichkeit, an ihrem Status Quo festhalten zu können.

Wir alle haben unsere eigene Wahrheit, auch das ist normal. Dennoch ist es wichtig, Whataboutism zu erkennen, wenn wir ihn verwenden, damit wir auf eine sachliche Diskussionsebene zurückkehren können. Denn sie ist der einzige Weg, der uns langfristig nach vorne bringt und wird daher dringend benötigt.

Ein Beispiel gefällig? Unser Gesundheitsminister „is back“ und „on track“. Die Geschwindigkeit, mit der er neue Gesetze und Initiativen aus dem Hut zaubert, muss man nicht mögen, man muss sie jedoch ernst nehmen. Er treibt seine Agenda voran und setzt sich durch. Transparenzverzeichnis, Digitalgesetz, Krankenhausreform, E-Rezept, Datennutzungsgesetz, Digitalagentur – es rollt etwas auf uns zu, mit dem wir uns zwangsläufig auseinandersetzen müssen.

Gleichzeitig übertrumpfen sich auch Google, Microsoft oder AWS (Amazon) mit immer neuen Partnerschaften, um Künstliche Intelligenz voranzutreiben. Ihr Ziel: sich Zugang zu strukturierten Gesundheitsdaten zu verschaffen. Google hat sich beispielsweise mit dem Anbieter für Gesundheitsdaten Meditech zusammengeschlossen, um generative KI für Gesundheitsdaten zu nutzen. Und wenn Googles Chief Health Officer Karen DeSalvo, MD, sagt, dass sie davon überzeugt ist, dass KI das Potenzial hat, das Gesundheitswesen in einem „planetarischen Ausmaß“ zu verändern, sollten wir hellhörig werden.

To be or not to be

Und genau hier kommt der Whataboutsim ins Spiel, den wir gerade so ausgiebig zelebrieren. Anstatt uns mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, die Ärmel hochzukrempeln und einfach mal anzupacken, fangen Diskussionen mit „Was ist mit XY, der/die/das macht es auch nicht“ an.

Sicherlich macht unsere Regierung gerade nicht alles richtig. Ich bin mir auch sicher, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren noch den ein oder anderen U-Turn sehen werden. Dennoch ist einfach mal machen, Dinge in Gang bringen aus meiner Sicht aktuell die einzige Option, die wir haben. Auch ich stehe hinter vielen Entscheidungen nicht. Beispielsweise halte ich es für einen großen Fehler, dass Markus Leyck Dieken die Gematik verlässt. Er ist ein Treiber der Transformation, versteht Digitalisierung und ist dabei überaus pragmatisch. Ihn nicht mehr an der Spitze der „Nationalen Agentur für Digitale Medizin“ zu haben, ist also ein Verlust, der erst einmal ausgeglichen werden muss. 

Das ändert jedoch nichts daran, dass wir die Rahmenbedingungen kennen. Übertragen auf meinen Lieblingssport Basketball heißt das: Wir kennen die Spielregeln und auch den Zeitrahmen. Jetzt gilt es, eine deutsche Mannschaft aufzustellen, die innerhalb dieser Vorgaben Großes leisten kann. Im Basketball ist es gelungen. Wir sind Weltmeister, weil keiner seinen Whataboutism ausgepackt hat. Stattdessen haben alle an einem Strang gezogen und wurden belohnt.

Potenzial für eine starke deutsche Mannschaft

Ich bewege mich nun lange genug im Gesundheitswesen, um beurteilen zu können, dass es ausreichend Führungspersönlichkeiten in Deutschland gibt, die etwas bewegen können und wollen. Denn aus meiner Sicht hat die kritische Masse verstanden, dass es nicht weiter so geht wie bisher. Und offensichtlich sind einige Wenige auch bereit, Konflikte auszutragen und einen starken Diskus für ein besseres Morgen zu führen. Exemplarisch seien hier die 30 Berliner Kliniken genannt, die gegen das Land Berlin klagen, gegen Sonderzahlungen, die möglicherweise gegen EU-Recht verstoßen. Ich glaube ehrlich, dass das noch vor ein paar Jahren unmöglich gewesen wäre. Schön sind Konflikte nie, aber eine konstruktive Streitkultur schafft Raum für Neues.

Es gibt fünf Aspekte, die ich als Maßstab nehme und an denen ich mich versuche zu orientieren, wenn ich mich neuen Themen nähere: vorrangig an die Generationen zu denken, die nach uns kommen, Gesundheit zu schätzen und zu fördern, um Krankheiten weitestgehend zu verhindern, Wohlstand fördern und Armut bekämpfen, den Stellenwert von Freizeit richtig einordnen und das Leben schätzen. Würde ich mich immer an diese Richtwerte halten, hätte es aus meinem Mund eigentlich keinen Whataboutism geben dürfen – eigentlich. Und das ist mein großer Appell: Selbstreflektion! Wenn jeder bei Entscheidungen diese fünf Aspekte abfragt, dürften der Weg in Richtung Zukunft ein besserer werden. 

Und abschließen möchte ich mit meinem fast schon langweiligen Appell: Wir müssen mutig sein, jetzt! In ein paar Jahren zu sagen „hätten wir damals bloß“, ist für mich keine Option – genauso wenig wie „aber die anderen haben es damals auch nicht gemacht“.

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