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KommentarWas sind Zukunftsgestalter wert?

Im Gesundheitswesen ist der Fachkräftemangel omnipräsent. Allerdings beschränkt sich die Diskussion auf einige wenige Berufsgruppen. Dass die treibenden Kräfte für eine digitale Transformation fehlen, wird nur am Rande thematisiert.

Admir Kulin
m.Doc GmbH
Admir Kulin, Gründer und Geschäftsführer der m.Doc Gmbh.

Wir müssen über den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen sprechen – und zwar einmal aus einer ganz anderen Perspektive. Denn bislang wird vor allem davor gewarnt, dass wir zu wenig Pflegekräfte haben und aufgrund des demografischen Wandels bald zu viele Ärzte in den Ruhestand gehen. Auch deshalb, so wird es gepredigt und da schließe ich mich ein, müssen wir mit Hilfe digitaler Lösungen effizienter werden. Sonst ist sowohl die Qualität der Gesundheitsversorgung als auch ihre Durchdringung in der Fläche gefährdet.

Was damit einhergeht und worüber bisher kaum bis gar nicht gesprochen wird, ist der Mangel an Fachkräften, die eben diesen digitalen Wandel jetzt hier und heute aktiv mitgestalten – oder besser gesagt federführend und verantwortlich umsetzen. Ich glaube – und das wird mir in persönlichen Gesprächen genauso widergespiegelt –, dass weder den verantwortlichen Akteuren im Gesundheitswesen noch der Politik oder geschweige denn der Gesellschaft als Ganzes wirklich bewusst ist, welche Verantwortung ein Chief Information Officer, ein Chief Digital Officer oder ein Chief Transformation Officer im Gesundheitswesen derzeit trägt und welcher Mehrwert mit der richtigen Besetzung dieser strategisch so wichtigen Posten verbunden ist.

Was Wertschätzung bedeutet

Dass das Ausmaß der Verantwortung in diesen Positionen bisher unterschätzt wird, zeigt beispielsweise, dass es nach wie vor zu wenige Menschen mit eben solchen Titeln gibt. Es sind nur einige weniger Kliniken, Verbünde und Gesundheitskonzerne, die solche Stellen innerhalb der Geschäftsführung entwickeln – oder sich vielmehr „leisten“, muss man fast sagen. Und nicht überall ist der CIO, CDO oder CTO als Stabstelle oder Teil der Geschäftsführung organisiert. Dabei würde ich sogar so weit gehen und sagen, dass es aus einer rein strategischen Perspektive betrachtet, aktuell kaum eine wichtigere Funktion im Gesundheitswesen gibt. Denn wir alle wissen, die Weichen für die Gesundheitsversorgung von morgen werden heute gestellt, sie führen auf einen digitalen Transformationspfad und werden in einem erheblichen Ausmaß über die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens, einer Klinik, ja sogar der gesamten Branche entscheiden.

Das heißt, wir müssten jene mutigen Menschen, die sich auf einen der oben genannten Posten bewerben, regelrecht hofieren, aber tun wir das auch? Zumindest mit Blick auf die Gehälter verdienen Top-Leute in anderen Ländern – allen voran in den USA – deutlich mehr, was unter anderem ein Grund ist, warum gerade auch in der Medizin so viele Ärzte und Forscher ihre Karrieren jenseits des Atlantiks fortsetzen. Wir müssen also in erster Linie lernen, herausragende und verantwortungsvolle Arbeit auch auskömmlich zu vergüten. Und das ist tatsächlich ein Problem, dass sich stringent durch alle Gehaltsstufen zieht.

Wertschätzung alleine auf den monetären Aspekt zu reduzieren, wäre allerdings zu kurz gedacht. Sie bedeutet auch, dass die strategische Bedeutung der Aufgaben entsprechend gewürdigt wird, die Verantwortlichen die Handlungsspielräume bekommen, die sie zur Ausgestaltung benötigen und ihnen eine gewisse Entscheidungsfreiheit eingeräumt wird. Denn immerhin müssen sie heute Entscheidungen treffen, die morgen Gültigkeit haben. Ein wenig Trail-and-Error oder positiv formuliert eine Art Zukunftslabor zum Ausprobieren, gehört da sicherlich dazu.

Vergangenheit trifft Zukunft

Und genau hier steht sich das Gesundheitswesen aus meiner Sicht an vielen Stellen noch selbst im Weg. Ich habe es schon oft moniert und werde nicht müde, mich zu wiederholen: Die starren Sektorgrenzen, das in Teilen veraltete Establishment und eine nach wie vor stark hierarchisch geprägte Organisation mache es den CIOs, CDOs und CTOs alles andere als leicht. Und gelinde gesagt sind sie auch schlicht und ergreifend nicht mehr zukunftsfähig. Denn alle anderen Branchen sprechen längst nur noch eine „leane und agile“ Sprache, die bis heute im Gesundheitswesen kaum einer versteht. Und andere Branchen denken ganzheitlich und stoppen keine Innovation an irgendwelchen Sektorgrenzen.

Die Zeiten ändern sich unweigerlich und jeder einzelne, der im Gesundheitswesen Verantwortung trägt, sollte sich insbesondere in diesen Zeiten kritisch hinterfragen. Wie agil bin ich in meinem eigenen Denken? Habe ich die Zukunftsthemen im Blick? Kann ich abstrahieren und damit zumindest gedanklich mit einer möglichen Zukunft spielen?

Die Realität sieht aus meiner Erfahrung oft anders aus. Und wenn es in Diskussionen ungemütlich wird, kommt immer noch gerne das berühmte „Das-haben-wir-immer-schon-so-gemacht“. Dabei ist es der größte Fehler, der dieser Tage in Punkto Digitalisierung gemacht werden kann: Analoge Prozesse ohne vorherige Evaluierung einfach zu digitalisieren. Dann muss ein Transformationsversuch zwangsläufig scheitern.

Frische Denke

Und genau deshalb ist es nicht nur wichtig, den digitalen Transformatorinnen und Transformatoren – wie auch immer ihr Titel heißen mag – nicht nur Wertschätzung entgegenzubringen und ihnen die nötigen Freiräume einzuräumen. Ich möchte außerdem dafür plädieren, auch Bewerbungen von Menschen zu berücksichtigen, die bisher nur wenige Berührungspunkte mit dem Gesundheitswesen hatten. Denn wer sich zu lange im Gesundheitswesen bewegt – und hier spreche ich aus eigenen Erfahrungen – läuft Gefahr, bereits zu antizipieren, welche Projektvorschläge gut ankommen und welche im Keim erstickt werden. Und wir alle kennen ja den Spruch, „Alle sagten, das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht.“

Natürlich können wir in der Gesundheitsversorgung nicht auf einem weißen Blatt Papier anfangen. In Sache Digitalisierung haben wir jedoch die Chance, es von Anfang an richtig zu machen – eben weil bisher verhältnismäßig wenig digitalisiert ist. Und auch die Gematik weiß, dass die TI 2.0 „anders“ sein muss. Dafür braucht es allerdings kluge und mutige Köpfe mit Durchsetzungsfähigkeit – und für die gilt es, die richtigen Anreize zu schaffen. Immerhin wollen sie sich freiwillig dieser volkswirtschaftlich so wichtigen Mammutaufgabe stellen.

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