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PersonalmangelFast 40 Prozent der Intensivbetten in Kinderkliniken gesperrt

Überbelegte Patientenzimmer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahme, Verlegung in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäuser: Deutschlands Kinderkliniken am absoluten Limit.

Kinder- und Jugendmedizin
Siam/stock.adobe.com
Symbolfoto

Die Intensiv- und Notfallmedizin beklagt deutschlandweit einen dramatischen Bettenmangel in Kinderkliniken. „Von 110 Kinderkliniken hatten zuletzt 43 Einrichtungen kein einziges Bett mehr auf der Normalstation frei. Lediglich 83 freie Betten gibt es generell noch auf pädiatrischen Kinderintensivstationen in ganz Deutschland – das sind 0,75 freie Betten pro Klinik, also weniger als eines pro Standort“, teilte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Rahmen der Pressekonferenz während des 22. DIVI-Kongresses am 1. Dezember mit. Für die aktuelle Umfrage hatte der Verband 130 Kinderkliniken angeschrieben. 110 Häuser hätten ihre Daten bereitgestellt.

„Das ist eine katastrophale Situation, anders ist es nicht zu bezeichnen. Deshalb fordern wir die sofortige Optimierung von Arbeitsbedingungen in den Kinderkliniken, den Aufbau telemedizinischer Netzwerke zwischen den pädiatrischen Einrichtungen und den Aufbau von spezialisierten Kinderintensivtransport-Systemen. Wir müssen jetzt endlich handeln“, so der DIVI-Generalsekretär und Münchner Kinder-Intensivmediziner Prof. Florian Hoffmann. Ein Grund für die Zuspitzung der Versorgungslage sei auch, dass in den vergangenen Jahren einige Kinder- und Jugendkliniken geschlossen wurden, bestätigte der Chefarzt des Magdeburger Klinikums Dr. Matthias Heiduk auf Nachfrage der Deutschen Presseagentur. 

Bundesgesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach (SPD) hat die kritische Lage auf dem Radar und will gegensteuern. Er setzt auf rasche Unterstützungsmaßnahmen für akut überlastete Kinderkliniken. „Die Kinder brauchen jetzt unsere volle Aufmerksamkeit“, sagte der SPD-Politiker in Berlin. So solle Pflegepersonal aus Erwachsenen- in Kinderstationen verlegt werden. Er habe die Krankenkassen aufgefordert, Vorgaben zur Personalbesetzung vorerst nicht zu prüfen und Sanktionen auszusetzen. Am 2. Dezember will der Bundestag außerdem zwei Finanzspritzen beschließen. Für Kinderkliniken soll es nach den Gesetzesplänen der Ampel-Koalition 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro mehr geben, zum Sichern von Geburtshilfestandorten jeweils 120 Millionen Euro zusätzlich. Die Finanzierung soll so auch unabhängiger von der jetzigen, leistungsorientierten Logik werden.

„Wir brauchen jetzt möglichst schnell Lösungswege“

Im Bereich Kinder- und Jugendmedizin wird wegen Corona, einer frühen Grippewelle und immer mehr Fällen des Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) an der Kapazitätsgrenze gearbeitet. „Wir können zwar immer noch Kinder aufnehmen, müssen dies aber zunehmend auch aus anderen Kliniken im Umland, weil die ebenso überlaufen“, ergänzte Dr. Matthias Heiduk. „Die RSV-Welle baut sich immer weiter auf und macht bei vielen Kindern die Behandlung mit Atemunterstützung notwendig. Wir können Stand heute davon ausgehen, dass es zu dieser Behandlung nicht genügend Kinder-Intensivbetten gibt“, so Prof. Sebastian Brenner, DIVI-Kongresspräsident und Bereichsleiter der interdisziplinären Pädiatrischen Intensivmedizin im Fachbereich Neonatologie und Pädiatrischen Intensivmedizin der Unikinderklinik Dresden weiter.

„Wir brauchen jetzt möglichst schnell Lösungswege. Und angesichts der Dramatik der geschilderten Ausnahmesituation müssen wir dabei auch unliebsame Maßnahmen in Erwägung ziehen“, erläuterte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek am 30. November in München mit. So könnten etwa ältere Kinder oder solche mit nicht kinderspezifischen Problemen wie Knochenbrüchen auch auf Erwachsenenstationen versorgt werden. „Und aus meiner Sicht darf auch der vorübergehende Einsatz von regulär auf Erwachsenenstationen tätigem Pflegepersonal auf Kinderstationen kein Tabu sein, damit die Kinderkrankenpflegekräfte sich auf die jüngeren Patientinnen und Patienten konzentrieren können.“

„Unser Wunsch ist, dass wir uns auf die Versorgung der Patienten fokussieren“, sagte Brenner. So fehle oft das Personal für pflegeferne Aufgaben, etwa die Reinigung der Zimmer, wenn ein Patient spätabends geht und einer neuer das Zimmer beziehen kann. Dieses Personal fehlt dann an anderer Stelle. Erkrankungen mit RSV verlaufen meist harmlos. Insbesondere bei vorerkrankten Kindern kann eine Infektion jedoch so schwer verlaufen, dass sie in eine Klinik eingewiesen werden müssen. Gerade bei Säuglingen und Kleinkindern können lebensbedrohliche Zustände eintreten.

Täglich über 100 kranke Kinder abgelehnt

Bei der Erhebung der DIVI habe jede zweite Klinik berichtet, dass sie in den vergangenen 24 Stunden mindestens ein Kind nach Anfrage durch Rettungsdienst oder Notaufnahme nicht für die Kinderintensivmedizin annehmen konnten – also der Anfragende weitersuchen musste nach einem adäquaten Behandlungsplatz. „Diese Situation verschärft sich von Jahr zu Jahr und wird auf dem Rücken kritisch kranker Kinder ausgetragen“, so DIVI-Generalsekretär Hoffmann. Auf den Klinikstationen müssen derzeit auch geplante Aufnahmen geschoben werden, weil sonst die stationäre Betreuung von kranken Säuglingen und Kleinkindern gefährdet wird. Auch die ambulanten Kinderärzte erreichen den Angaben zufolge inzwischen ihre Kapazitätsgrenze. „Gefragt nach den Intensivkapazitäten zeichnet sich ein Bild, dass deutschlandweit, egal ob Norden, Süden, Osten oder Westen, durchschnittlich 40 Prozent der Kinder-Intensivbetten wegen Personalmangel gesperrt sind. Bei rund 80 Prozent der Befragten fehlt Pflegepersonal, es fehlen teilweise aber auch Ärzte“, resümiert Prof. Sebastian Brenner. 

Die Ursache für den Personalmangel liegt unter anderem darin, dass die Belastung sehr groß ist. Das Dreischicht-System und die psychosoziale Belastung würden dazu führen, dass viele Mitarbeitende ihre Stunden reduzieren auf 80 oder sogar 50 Prozent, führt Brenner während der Pressekonferenz aus. Hinzu komme eine „unglaublich hohe Dokumentationspflicht“. Während beispielsweise bei Zahnärzten eine Assistenz die Dokumentation übernimmt, machen die Ärzte in den Kliniken das selbst. Erschwert wird das ganze durch fehlende Interoperabilität. „Die Systeme sprechen nicht miteinander“, bringt es Brenner auf den Punkt. Man übertrage von einem System in das andere, beispielsweise bei Verlegungen von einer onkologischen auf eine Intensivstation. Das seien zwei Dokumentationssysteme. Medikamente, Anamnese etc. müssten komplett übertragen werden. „Wenn wir das übertragen, brauchen wir eigentlich ein vier-Augen-System, was wir ehrlicherweise nicht haben“, so der Mediziner. 

Zahlen im Detail

Die 110 rückmeldenden Häuser weisen insgesamt 607 aufstellbare Betten aus, von denen aber lediglich 367 Betten betrieben werden können. Grund für die Sperrung von 39,5 Prozent der Intensivbetten für Kinder ist hauptsächlich der Personalmangel. Bei 71,8 Prozent der Befragten ist Pflegepersonalmangel konkreter Grund für die Bettensperrungen. Freie Betten gab es lediglich 83, das heißt durchschnittlich 0,75 Prozent freie Betten pro Klinik. 47 Kliniken melden null verfügbare Betten, 44 Kliniken ein freies Bett. 51 Kliniken berichten von abgelehnten Patientenanfragen. Das heißt konkret: 46,4 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Kliniken berichten von insgesamt 116 abgelehnten Patientinnen und Patienten – an nur einem Tag. Ein Höhepunkt der Infektionen mit Influenza und RSV sei aktuell deutschlandweit nicht abzusehen, betonte der Sprecher der Düsseldorfer Universitätsklinik, Tobias Pott. Auch das RKI rechnet laut Wochenbericht mit steigenden Fallzahlen.

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) kommen weltweit geschätzt 5,6 schwere Fälle von RSV-Atemwegserkrankungen pro 1000 Kinder im ersten Lebensjahr vor. Innerhalb des ersten Lebensjahres hätten normalerweise 50 bis 70 Prozent und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht. Im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen waren viele solche Infektionen allerdings zeitweise ausgeblieben. Die Kindermediziner sehen jedoch nicht die Pandemie als primäre Ursache der teils dramatischen Situation in den Kliniken. „Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“, sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.“

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