Schon im vergangenen Jahr hatte sich deutlich abgezeichnet, dass die Mordserie von Nils H. sich mit großer Wahrscheinlichkeit zur größten Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte entwickeln könnte. Die Befürchtungen haben sich nun bewahrheitet - und es wird vermutlich noch viel schlimmer kommen. "Das Grauen hört nicht auf", fasste der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme auf einer Pressekonferenz den aktuellen Ermittlungsstand zusammen.
Nils H., der seit vergangenem Jahr wegen sechs Todesfällen im Klinikum Delmenhorst bereits eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, soll die Mordserie zwischen 1999 und 2008 begangen haben. Im Prozess hatte der Ex-Pfleger weitere Taten gestanden. Bei 27 Gestorbenen im Klinikum Delmenhorst, die auf Druck von Angehörigen von der Staatsanwaltschaft exhumiert wurden, stellten die Ermittler laut Kühme nun Rückstände des Herzmedikaments "Gilurytmal" fest. Nils H. hatte den Patienten absichtlich eine Überdosis gespritzt, um danach bei der Wiederbelebung seine Fähigkeiten zu beweisen. Viele überlebten diese Notmaßnahme jedoch nicht. Allein in Delmenhorst ist Nils H., der die 27 ermittelten Fälle auch gestanden haben soll, nun für 33 Patientenmorde verantwortlich.
Nils H. mordete auch in Oldenburg
Im Prozess des vergangenen Jahres hatte der Ex-Pfleger jedoch immer bestritten, dass er auch in Oldenburg getötet habe. Inzwischen gehen die Ermittler aber mit "eindeutiger Sicherheit" davon aus, dass der heute 39-Jährige im Klinikum Oldenburg mehrere Patienten getötet hat. Dort nutzte er offenbar nach Auffassung von Gutachtern Kalium zum Töten. "Wie viele Patienten Opfer in Oldenburg waren, können wir derzeit nicht sagen", sagte Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann. Es bestehe dringender Tatverdacht in sechs Fällen, davon in vier Fällen wegen Kaliumvergiftung. Ob Niels H. darüber hinaus noch mit anderen Substanzen tötete, wird derzeit noch geprüft. Im schlimmsten Fall könnte die Mordserie noch schlimmere Dimensionen annehmen und auf rund 100 getötete Patienten anwachsen. Fest steht aber auch: Viele Todesfälle werden sich nach mehr als zehn Jahren Abstand zur Tat nicht mehr eindeutig aufklären lassen, eine sehr große Dunkelziffer wird bleiben.
Die Ermittler erheben allersdings schwere Vorwürfe gegen seinerzeit Verantwortliche im Klinikum Oldenburg, wo Nils H. bis Ende 2002 gearbeitet hat. Dort hatte er gehen müssen, weil anderen Pflegern und Ärzten ein Häufung ungewöhnlicher Notfälle aufgrund erhöhter Kaliumwerte aufgefallen war, an allen war Nils H. beteiligt. Statt zu reagieren, lobte das Klinikum Nils H. mit einem positiven Arbeitszeugnis aus Oldenburg weg. Nur eine Woche nach Dienstantritt des Pflegers in Delmenhorst gab es dort den ersten Todesfall.
Guter Ruf sei wichtiger gewesen als Patientenwohl
Oldenburgs Polizeipräsident Kühme kritisierte deshalb auf der Pressekonferenz scharf die seinerzeit Verantwortlichen im Klinikum Oldenburg. "Diese wussten um die Auffälligkeiten", hätten aber nicht die Behörden eingeschaltet. Heute spreche viel dafür, dass den Verantwortlichen der gute Ruf des Hauses wichtiger gewesen sei als das Wohlbefinden der Patienten. "Die Morde von Nils H. im Klinikum Delmenhorst hätten verhindert werden können", so Kühme. Auch deshalb laufen in Oldenburg wie auch in Delmenhorst gegen acht Klinikverantwortliche Ermittlungen wegen des Verdachts des Totschlags durch Unterlassen. Der Polizeichef hätte allerdings fairerweise auch erwähnen können, dass lokale Staatsanwälte trotz deutlicher Hinweise von Angehörigen jahrelang nicht ermittelt haben.
Das Klinikum Oldenburg ging in einer ersten Stellungnahme nicht auf die konkreten Vorwürfe von Kühmel ein, verwies aber darauf, immer mit der Staatsanwaltschaft kooperiert und diese aktiv unterstützt zu haben. Das Klinikum erinnerte daran, 2014 selbst einen Gutachter eingeschaltet zu haben, der bei 16 Patienten erhebliche Anhaltspunkte für eine Kaliumvergiftung festgestellt hätte. Diese Unterlagen seien den Ermittlern umgehend überreicht worden. Offenbar kursierte jedoch bereits 2002 eine interne Liste im Klinikum Oldenburg, die unvollständig ungewöhnliche Tödesfälle und Reanimationen auflistete.
Klinikum Oldenburg: Es gab keine erhöhte Sterberate
Warum die seinerzeit Verantwortlichen "die Beweiskraft nicht für aussagekräftig erachteten, um die Ermittlungsbehörden einzuschalten, können wir heute nicht nachvollziehen", teilte das Klinikum mit. Klinikgeschäftsführer Dirk Tenzer, der viele Jahre nach den Vorkommnissen die Klinikeitung in Oldenburg übernommen hat, hatte im vergangenen Jahr im Interview mit kma darauf verwiesen, dass es weder Indizien für eine erhöhte Medikamentengabe oder eine erhöhte Sterberate gegeben habe. "Die Kollegen sind damals einfach nicht auf die Idee gekommen, dass ein Kollege aktiv die Patienten schädigt", so Tenzer.
Die unfassbare Mordserie und die Frage, wie Nils H. in den beiden Kliniken Oldenburg und Delmenhorst quasi unbehindert morden konnte, beschäftigt längst auch die Politik und überregionale Medien wie die "Süddeutsche Zeitung", die damit am Donnerstags aufmachte. Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD) betonte, es könne sich nicht nur um Einzeltaten eines "wirren Mörders" handeln. Dass die Taten nicht aufgefallen seien, deute auf Strukturprobleme hin, die nun nach und nach behoben würden.


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