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Vor-Ort-DiagnoseKI-CT-Kombination auf dem Oktoberfest

Um die Diagnostik und Behandlung von Kopfverletzungen auf dem Oktoberfest zu verbessern, hat ein Team der Klinik und Poliklinik für Radiologie der LMU München dort erstmals einen Computertomograf aufgestellt. Der Diagnoseprozess wurde dabei von einer KI unterstützt.

Menschenmassen in Feierlaune können Großveranstaltungen schnell in Tragödien verwandeln. Zuletzt sind in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul bei einer Halloween-Feier 151 Menschen in einem Massenandrang getötet und 82 zum Teil schwer verletzt worden. Verglichen damit ist man auf dem Münchener Oktoberfest, das nach zweijähriger Unterbrechung in diesem Jahr wieder wie gewöhnlich stattfand, glimpflich davongekommen. Obwohl bereits am ersten Tag 311 Patienten in dem dafür eigens eingerichteten Sanitätszentrum versorgt wurden und die Zahl der Notaufnahmen während des Volksfestes laut Rettungsdienst der Stadt München um 30 Prozent steigt, ist bei der insgesamt 16 Tage andauernden Veranstaltung niemand gestorben. Dazu hat auch ein vom Team der Klinik und Poliklinik für Radiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) erstmals direkt vor Ort aufgestellter Computertomograf (CT) entscheidend beigetragen.

CT für unklare Kopfverletzungen

Die sogenannte Wiesn-Klinik befindet sich direkt neben den Festzelten des Oktoberfestes. Insgesamt 450 Rettungssanitäter und 50 Ärzte arbeiten hier im 24-Stunden-Schichtbetrieb. Zu ihnen zählten 2022 auch Radiologen und MTRAs des LMU, die dort mit Hilfe des CT gezielt Verletzungen diagnostizierten. Der CT-Scanner, der dazu als Containerlösung inklusive Kühlung und Strahlenschutz aufgestellt und mittels spezieller Datenleitungen an die IT-Infrastruktur des LMU Klinikums angeschlossen war, unterstützte dabei vor allem die Diagnostik von unklaren Verletzungen des Kopfes und der Halswirbelsäule. Zu ihnen zählen Stürze, Kopfplatzwunden und jene bewusstlose Patienten, die vielleicht nur ihren Rausch ausschlafen müssen – jene Patientengruppe also, bei der man ohne bildgebende Diagnostik vor Ort bisher nicht sicher sein konnte, ob sie aufgrund eventueller Blutungen im Kopf schwerer verletzt sind oder nicht. „Eine Hirnblutung, die nicht erkannt wird, kann lebensbedrohlich sein. Gerade die Identifikation dieser intrakraniellen Blutungen ist daher hochrelevant, weil sie entweder einer intensiven Überwachung oder einer sofortigen Therapie bedürfen, um bleibende Schäden zu verhindern oder eine unmittelbare Vitalbedrohung“, erläutert Professor Clemens Cyran, Geschäftsführender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Radiologie am LMU Klinikum.

Das Ziel der Maßnahme war, mit Hilfe eines CT – in diesem Fall ein Gerät von Siemens – den Schweregrad von Kopfverletzungen vor Ort abzuklären und so den Transportdienst und die Notaufnahmen zu entlasten. „Die CT ermöglicht den behandelnden Ärzten bereits vor Ort eine Art Triage-Situation, bei der sie die Patienten in verschiedenen Schweregruppen einteilen und die leicht Verletzten dann auch richtigerweise ambulant versorgen, satt sie zur Überwachung in die Münchner Kliniken überweisen zu müssen“, betont Clemens Cyran.

Diagnose unter erschwerten Bedingungen

Dabei musste die Vor-Ort-Diagnose, für die Radiologen die einzelnen CT-Schnittbilder an einem Befundungsarbeitsplatz im Sanitätszentrum auf dem Oktoberfest zu beurteilen hatten, unter besonderen Bedingungen stattfinden. „Die Radiologen arbeiteten hier in einer Notfallsituation – wenn sie durch dieses vollbesetzte Lazarett laufen, dann geht ihnen das schon ganz schön unter die Haut: Schwere Verletzungen im Gesicht, blaue Augen, ausgeschlagene Zähne und bewusstlose Menschen, die sich erbrechen, das kann man sich kaum vorstellen“, berichtet der Oberarzt. Um Fehldiagnosen in dieser Situation auszuschließen, hat sich das LMU daher entschieden, den Diagnoseprozess in Echtzeit durch den Einsatz einer KI zu unterstützten.

„Wir haben in Sachen KI am LMU Klinikum bereits eine intensive Kooperation mit dem Münchener Health IT-Unternehmen Deepc. Im Rahmen dieser Kooperation war das Hinzuziehen jenes KI-Algorithmus zur automatisierten Detektion intrakranieller Blutungen ein naheliegender Schritt. Nicht ganz naheliegend war allerdings, dass die Idee, ein CT dort zu installieren, sehr kurzfristig entstand und wir gefragt wurden, ob wir das betreuen wollen. Und genau mit dieser Kurzfristigkeit sind wir dann auf unseren Partner Deepc zugegangen. Denn die Technik hat auch die kurzfristige Installation zusätzlicher Datenknoten und -strukturen notwendig gemacht. Das haben wir gemeinsam geschafft“, so Clemens Cyran.

Radiologie-KI-Plattform

Das Health IT-Unternehmen hat mit „deepcOS“ eine Radiologie-KI-Plattform entwickelt, mit deren Hilfe Kliniken und radiologische Praxen auf verschiedene ausgewählte KI-Lösungen zugreifen können. Laut dem Arzt und Datenwissenschaftler Dr. Franz Pfister, CEO und Mitgründer von Deepc, gibt es derzeit auf dem internationalen Markt etwa 600 unterschiedliche zugelassene KI-Produkte allein für die Radiologie. Auf der Plattform sind laut Firmenangaben für 35 Indikations- und Anwendungsfelder KI-Lösungen unterschiedlicher Hersteller verfügbar, die sich alle mit einer einmaligen Installation DSGVO-konform in bestehende IT-Infrastrukturen integrieren lassen. Zudem biete das Unternehmen Anwendern die Installation, Vertragserstellung und Abrechnung aus einer Hand. „Wir binden diese verschiedenen KI-Applikationen nicht nur technologisch in die Plattform ein, sondern begleiten diesen Prozess von Anfang bis Ende. Das beginnt damit, dass wir uns einen Marktüberblick verschaffen und die Vor- und Nachteile der einzelnen KI-Lösungen miteinander vergleichen und unsere Kunden dahingehend individuell beraten“, ergänzt Dr. Franz Pfister.

Die KI muss so sicher sein, dass sie keine Blutung übersieht, aber auch nicht übersensibel ist. Erst dann wird sie in ihrer Nutzbarkeit von Radiologen angenommen.

So stammt etwa die KI-Lösung zur Erkennung von Hirnblutungen, die die Radiologen des LMU Klinikums auf der Münchener Wiesn eingesetzt haben, von der französischen Softwareschmiede Avicenna. Ihr Algorithmus ist in der Lage, in den über 200 CT-Schnittbildern pro Patienten jene zu markieren, die potenziell blutungsverdächtig sind. „Die KI muss so sicher sein, dass sie keine Blutung übersieht, aber auch nicht übersensibel ist. Erst dann wird sie in ihrer Nutzbarkeit von Radiologen angenommen. In der Konstellation des Oktoberfestes ist der KI-Einsatz besonders spannend. Wer unter diesen Bedingungen eine qualitativ hochwertige und effiziente Diagnostik liefern muss, ist also froh, einen kompetenten KI-Partner an seiner Seite zu haben“, so Cyran.

Natürlich befunden die Radiologen die CT-Untersuchungen zusätzlich auch selbst, denn am Ende sind nach wie vor sie es, die den Befund erstellen und auch unterschreiben. „Die Befundungsunterstützung soll dazu dienen, die Qualität und Effizienz in der Befundung zu verbessern – und eine Verbesserung der Diagnosesicherheit zu erreichen, also das Vertrauen in die eigene Diagnose. Und da sehen wir, dass das bei den Kollegen gut ankommt“, unterstreicht Cyran. Das werde auch eine Studie verdeutlichen, für die Radiologen und Zuweiser danach befragt wurden, wie sie die KI-Unterstützung empfunden haben.

Mehrwert diagnostische Metadaten

Der Nutzwert solcher KIs liegt für Franz Pfister vor allem darin, die zunehmende Arbeitsbelastung der Radiologen zu reduzieren, die Qualität ihrer Befundung zu gewährleisten und ihre Expertise auf die schwierigen Fälle lenken zu können. „Die Zahl der radiologischen Untersuchungen schießen in die Höhe, in Deutschland jährlich sechs bis sieben Prozent, in Ländern wie Dänemark sogar zehn Prozent pro Jahr. In den letzten zehn Jahren hat sich die Untersuchungsanzahl um das 2,5-Fache erhöht. Das Problem ist aber, dass die Zahl der Radiologen nicht gleichermaßen gestiegen ist“, verdeutlicht der CEO. Für Clemens Cyran steht der Mehrwert an diagnostischen Metadaten, die mit Hilfe von KI-Algorithmen genutzt werden können, im Vordergrund. „Was uns bewegt ist, dass wir aus den digitalen Daten, die wir als Bilder sehen, digitale Informationen extrahieren und als eine Art Datenstrom in Richtung automatisierter Therapiesteuerung entwickeln können – und zwar kriterienbasiert, quantitativ und reproduzierbar. Wir erheben etwa automatisiert radiomische Daten, die wir in einem Befundtext nicht aufführen werden. Aber wenn sie diese Daten analysieren wollen, sind sie in einem Datawarehouse vorhanden. Damit entstehen diagnostische Datenströme, die man dann mit einem Therapiesteuerungs- Algorithmus verbinden kann – etwa indem sie bei einem Tumorboard automatisiert einen KI-Vorschlag erhalten. Denn die Menge der diagnostischen Daten hat nicht nur in der Radiologie, sondern auch der Pathologie und der Labormedizin so zugenommen, dass das inzwischen das übersteigt, was ein Mensch ständig kontrollieren kann. Daher brauchen wir eine solche technische Unterstützung von KI, um noch besser werden zu können.“

LMU plant weitere KI-Einsätze

Vor diesem Hintergrund wird die Klinik und Poliklinik für Radiologie am LMU Klinikum neben der CT-KI zur Erkennung von Hirnblutungen, die jetzt auch Teil des klinischen Regelbetriebes wird, in naher Zukunft über die KI-Plattform „deepcOS“ weitere KI-Anwendungen in die radiologische Klinikroutine einführen. Im Rahmen einer weiteren Partnerschaft der LMU werden KI-Algorithmen zur radiologischen Befundungsunterstützung mit Siemens Healthineers klinisch integriert. „In der klinischen Routine verwenden wir aktuell Algorithmen für automatisierte orthopädische Messungen an der Wirbelsäule und der Hüfte, zur automatischen Beurteilung des Knochenalters auf Röntgenbildern und Algorithmen, die eine Frakturdetektion ermöglichen. Ein wichtiges Projekt ist auch, die Themen strukturierte Befundung und KI zusammenzuführen“, kündigt Cyran an.

Von der KI-Unterstützung auf dem Oktoberfest sind die Radiologen laut dem Geschäftsführenden Oberarzt indes positiv begeistert. Über 200 Patienten wurden mit ihrer Hilfe untersucht. Das eine derartige KI-CT-Kombination sich auch für andere Großveranstaltungen eignet, liegt auf der Hand. Allerdings nur ab einer gewissen Größe, gibt Clemens Cyran zu bedenken: „Wenn man sieht, dass etwa sechs Millionen Besucher auf der Wiesn waren und indikationsgerecht im Endeffekt 208 CTs gemacht wurden, dann ist das natürlich ein Verhältnis, über das es nachzudenken gilt. Bei einer Veranstaltung mit nur 10 000 Besuchern investieren sie für die Logistik eventuell eine sechsstellige Summe für die Untersuchung nur sehr weniger Patienten.“

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