
Der ökologische Fußabdruck des weltweiten Gesundheitswesens ist alarmierend. Mit einem Anteil von 4,4 Prozent an den globalen CO2-Emissionen ist es entscheidend mitbeteiligt an der Klimaerwärmung und stößt jährlich mehr Treibhausgase aus als der Flugverkehr (drei Prozent) oder die Schifffahrt (zwei Prozent). Zwei Billionen Kilogramm CO2 sind das pro Jahr, was den jährlichen Emissionen von 514 Kohlemeilern entspricht.
Laut einer Ermittlung der Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ ist der deutsche Gesundheitssektor sogar für 5,2 Prozent des bundesweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Nicht nur Krankenhäuser, sondern auch die deutsche Medizintechnikbranche steht deshalb gewaltig unter Zugzwang. Auch vor dem Hintergrund, dass ihr Exportanteil – er lag im Jahr 2022 bei rund 67 Prozent – hierbei noch nicht eingerechnet ist.
Nachhaltigkeit ist die Grundlage für gute Gesundheit, und gute Gesundheit ist die Grundlage für Nachhaltigkeit.
Dass die deutsche Medtech-Industrie ihren ökologischen Fußabdruck dringend reduzieren muss, steht außer Frage. Immerhin zielen alle Erzeugnisse dieser Branche darauf ab, die Gesundheit zu verbessern. Die CO2-Emissionen verschärfen dagegen den Klimawandel und torpedieren damit ihre Zweckbestimmung. Dr. Bernd Montag, der CEO von Siemens Healthineers, brachte es auf der Jahreshauptversammlung im vergangenen Februar auf den Punkt: „Nachhaltigkeit ist die Grundlage für gute Gesundheit, und gute Gesundheit ist die Grundlage für Nachhaltigkeit.“
Obwohl es bis dato keine Selbstverpflichtung zu mehr Nachhaltigkeit in dieser Branche gibt, hat der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) vor dem Hintergrund des europäischen „Green Deal“, mit dessen Hilfe Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden soll, Mitte dieses Jahres einen Muster-Kodex „Nachhaltigkeit“ veröffentlicht, der zu einem einheitlichen Branchenstandard beitragen soll. Dabei orientiert er sich an den drei Säulen der Nachhaltigkeit – sozial, ökologisch und ökonomisch – die bereits im Greenhouse Gas Protocol formuliert worden sind.
Nachhaltigkeit ist komplex
Selbst wenn man nur die Säule der ökologischen Nachhaltigkeit betrachtet, wird deutlich, wie komplex dieses Feld ist. Immerhin beschränkt sich der ökologische Fußabdruck nicht nur auf den Ausstoß von Treibhausgasen wie CO2. Allein Medizinprodukte können auf unterschiedliche Weise nachhaltig sein, etwa durch niedrigen Energieverbrauch, nachhaltige Produktion mit geringeren Emissionen, nachhaltige Materialien, weniger Verpackung und längere Lebensdauer.
Drei Bereiche
Angesichts globaler Lieferketten lässt sich die Frage, wie nachhaltig ein einzelnes Medtech-Unternehmen ist, auch nicht auf den Produktionsstandort in Deutschland beschränken. Das Greenhouse Gas Protocol GHG nennt drei Bereiche (Scopes), denen klimaschädigende Emissionen zugeordnet werden können:
- Scope 1 umfasst zunächst alle direkten, aus Quellen innerhalb der eigenen Unternehmensgrenzen stammenden Emissionen.
- Scope 2 die indirekten Emissionen aus außerhalb erzeugtem und eingekauftem Strom, Dampf, Wärme und Kälte.
- Scope 3 alle sonstigen indirekten, darunter jene aus der Herstellung und dem Transport eingekaufter Güter und Emissionen, die etwa bei deren Nutzung oder deren Entsorgung anfallen.
Angesichts dieser Komplexität bietet der BVMed den Unternehmen mit dem „Fachbereich Umwelt und Nachhaltigkeit“ (FBUN) hier Unterstützung, Handreichungen zu Gesetzesvorschriften, Schulungen und Beratung. „Der Fachbereich Umwelt und Nachhaltigkeit ist das größte Gremium, was wir aktuell haben“, so Clara Allonge, die den Themenbereich Nachhaltigkeit beim BVMed betreut.
Die EU-Politik treibt das Thema ebenfalls voran, im Zuge des Green Deals gibt es aktuell rund 80 Gesetzesinitiativen, ganze 40 davon betreffen laut BVMed direkt oder indirekt die Medizintechnik. Auch die deutsche Politik tut das. Im Zuge der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ist etwa Anfang Januar 2023 das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in Kraft getreten. Es betrifft sämtliche Wirtschaftsbereiche, also auch das Gesundheitswesen einschließlich des Medtech-Sektors.
Vorgaben zur Nachhaltigkeit
Ab 2024 gilt es für alle Unternehmen, die mehr als 1000 Mitarbeitende beschäftigen und verpflichtet sie, sowohl Umweltschutz-, Menschenrechts-, und Gesundheitsstandards zu beachten, und zwar entlang der gesamten Lieferkette vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt.
Neben weiteren Vorgaben zum Thema Nachhaltigkeit, etwa seitens des Vergaberechts oder der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR), verpflichtet die Anfang 2023 in Kraft getretene Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) auch immer mehr Unternehmen der Medizintechnikbranche. Ab Januar 2025 müssen sie für das jeweils zurückliegende Jahr detailliert darstellen, wie und in welchem Umfang ihre Unternehmen in Bezug auf Umsatz, Investitions- und Betriebsausgaben als ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten einzustufen sind.
Vorreiter der Medtech-Branche
Auch die Medizintechnikhersteller waren in Sachen Nachhaltigkeit nicht untätig. Philips Healthcare etwa war nach eigenen Angaben im Jahr 2022 das erste Gesundheitstechnologieunternehmen der Welt, dessen Ziele zur Reduzierung der CO2-Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette von der Initiative „Science Based Targets" (SBTi) validiert wurden. Bis dato haben sich bereits 41 Prozent seiner rund 15000 zuliefernden Firmen zu jenen Nachhaltigkeitszielen verpflichtet.
Bis 2025 wird Philips 75 Prozent seines Gesamtenergieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen beziehen. „Wir sind bereits seit 2020 zu 100 Prozent Klimaneutral und haben dazu massiv in unsere eigenen Windparks und Solaranlagen investiert, sodass wir den grünen Strom selbst erzeugen“, berichtet Robert Metzke, globaler Leiter der Nachhaltigkeitsabteilung bei Philips. „Wir schon in den 90er Jahren mit dem Thema Ökodesign angefangen, mehr als 75 Prozent unseres ganzen Produktportfolios ist mittlerweile durch diese Mühle gegangen. Im Jahr 2025 werden es 100 Prozent sein“, ergänzt er.
Die transport- und vertriebsbezogenen CO2-Emissionen konnte das Unternehmen bereits um 22 Prozent verringern. Bis 2025 will Philips sogar 25 Prozent seines Umsatzes mit kreislauffähigen Produkten generieren. „Wir können jetzt schon alle medizinischen Großgeräte zurücknehmen und haben dazu letztes Jahr in Produktionsumgebungen investiert, um etwa MRT- und CT-Scanner aufzuarbeiten. Wenn das nicht geht, können wir Komponenten herausnehmen und diese wiederverwenden oder das Material recyceln“, führt Robert Metzke aus.
90-prozentige Reduzierung bis 2030
Siemens Healthineers zählt in Sachen ökologischer Nachhaltigkeit ebenfalls zu den Vorreitern und hat konkrete Ziele zur Reduzierung von CO2-Äquivalenten definiert, die von der Science Based Targets Initiative validiert wurden.
Bis zum Jahr 2030 soll eine 90-prozentige Reduzierung der Scope-1- und Scope-2-Emissionen erfolgt sein. Bis dahin sollen auch die Scope-3-Emissionen um 28 Prozent reduziert werden, bis 2050 sogar um 90 Prozent. Im Geschäftsjahr 2022 konnte das Unternehmen seine Scope 1 und 2 Emissionen auf 180 Kilotonnen CO2-Äquivalente gegenüber 2019 reduzieren und hat damit seine Zielvorgabe bereits zu 55 Prozent erreicht.
„Um unsere Emissionen in der Lieferkette zu senken, haben wir beispielsweise für den Transport unserer Systeme zum größten Teil von Flug- auf Seefracht umstellt. Auch Kreislaufwirtschaft spielt eine entscheidende Rolle. Seit über 20 Jahren betreiben wir das Aufbereiten bildgebender Systeme, ob als Ganzes oder die einzelnen Teile. Schon 2003 haben wir eine Röntgenröhre gebaut, bei der 90 Prozent der Teile wiederverwendet werden können, um daraus eine neue Röhre zu bauen“, führt Peter Klinger, Corporate Sustainability Manager bei Siemens Healthineers, aus.
Produktion zurückverlagert
Andere sind in Sachen Nachhaltigkeit dagegen noch nicht ganz so weit. Drägerwerk etwa, das familiengeführte Unternehmen der Medizin- und Sicherheitstechnik mit Stammsitz in Lübeck, hat das Thema Nachhaltigkeit innerhalb des Vorstands direkt beim CEO angesiedelt. Zur Koordinierung der Nachhaltigkeitsaktivitäten bei Dräger gibt es seit 2017 einen Expertenkreis, das Global Sustainability Office. Ihm gehören die Nachhaltigkeitsverantwortlichen der Funktionsbereiche Umweltmanagement, Personalwesen, Compliance, Arbeitssicherheit, Lieferantenmanagement, Qualität, Entwicklung, Produktmanagement, Finanzberichterstattung und Spendenmanagement an.

Die CO2-Neutralität will man hier bis 2045 erreichen, bis 2022 wurden bereits 38 Prozent reduziert. Von 2015 bis 2021 konnte etwa der Treibstoffverbrauch der Dienstwagenflotte weltweit um 24 Prozent gesenkt werden. Auch bei der Vermeidung langer Lieferketten ist man engagiert. „Wir haben etwa die Filterproduktion für Atemfilter, die man typischerweise pro Patient im Krankenhaus einsetzt, nach Deutschland zurückverlagert. Diese Produkte lässt man normalerweise in Fernost fertigen“, so Werner Frenz, Marketingleiter Segment Hospital bei Dräger Medical. Zum Thema Recycling führt er etwa Rückatemsysteme bei Narkosegeräten an, zu dessen Filterung sogenannter Atemkalk verwendet wird – ein Gefahrstoff, der normalerweise in Müllverbrennungsanlagen beseitigt wird – und den Dräger zurücknimmt, um ihn zu recyceln. Dennoch liegt Dräger laut Frenz bei der Nachhaltigkeit eher im Mittelfeld.
SEE-Impact-Branchenstudie
Insgesamt steht die deutsche Medizintechnik im Vergleich zu anderen Branchen in Sachen Nachhaltigkeit allerdings ganz gut da. Das verdeutlicht die weltweit erste SEE-Impact-Branchenstudie des BVMed, in der erstmals eine umfassende Nachhaltigkeitsmessung der deutschen Medizintechnikindustrie durchgeführt wurde.
Im Vergleich der Indikatoren Wasserverbrauch, Abfall, Luftverschmutzung und Treibhausgase nimmt die Medtech-Branche demnach einen guten bis mittleren Platz im Branchenranking ein. Die von ihrer wirtschaftlichen Aktivität ausgelösten Effekte sind relativ gesehen mit geringeren ökologischen Auswirkungen verbunden als in anderen Branchen. Zudem wurden 61,8 Prozent ihrer Gesamtemissionen an Treibhausgasen im Jahr 2020 – ganze 8,9 Millionen Tonnen – in der globalen Lieferkette ausgestoßen, nur 1,1 Millionen Tonnen sind direkt in Deutschland und weitere 2,2 Millionen Tonnen in der deutschen Lieferkette entstanden.
Wenn wir uns auf die ökologische Nachhaltigkeit fokussieren, dann ist die deutsche Medizintechnikbranche auf einem guten Weg.
„Wenn wir uns auf die ökologische Nachhaltigkeit fokussieren, dann ist die deutsche Medizintechnikbranche auf einem guten Weg“, bestätigt Clara Allonge. Trotzdem stehen viele Unternehmen angesichts der Komplexität des Themas bei den Nachhaltigkeitsfortschritten erst am Anfang. „Wir sehen, dass mittlerweile sehr viele unserer Unternehmen Nachhaltigkeitsbeauftragte eingesetzt haben und in dieser analytischen Phase schon sehr weit sind. Da ist unglaublich viel Dynamik drin, das ist vielleicht noch nicht überall sichtbar, aber es passiert. Die ersten Unternehmen haben auch bereits ihre Produktionsprozesse umgestellt“, ergänzt BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll.
Anspruch und Umsetzbarkeit
Trotz des gesellschaftlichen und politischen Drucks und der eigenverantwortlichen Überzeugung der Medizintechnikunternehmen ist mehr Nachhaltigkeit in der Praxis nicht leicht umzusetzen. „Eines der größten Hindernisse ist hier, dass es keine saubere Definition dazu gibt, wie man eigentlich einen CO2-Fußabdruck misst. Damit ist die Bilanzierung sehr schwer. Bei einfachem Zubehörmaterial sind wir natürlich in der Lage, das auch rückwirkend herauszufinden. Bei einem komplexes Produkt wie etwa einem Narkosegerät, das aus vielen 1000 Einzelteilen besteht, die eventuell auch noch von Sublieferanten gefertigt werden, ist das nicht so einfach“, postuliert Frenz.
Eines der größten Hindernisse ist hier, dass es keine saubere Definition dazu gibt, wie man eigentlich einen CO2-Fußabdruck misst.
Oft gelte daher, abzuwägen und einen Kompromiss einzugehen. „Niemand würde ein Narkosegerät für 200 000 Euro kaufen, wenn der aktuelle Preis je nach Konfiguration im mittleren fünfstelligen Bereich liegt. Funktion, Kosten, Nachhaltigkeit und andere Aspekte müssen in einem akzeptablen Verhältnis zueinander stehen. Viele Kunden stellen zwar erhöhte Forderungen an das Produkt in Sachen CO2-Fußabdruck, sind aber heute nicht immer bereit, die durch eine nachhaltige Materialauswahl, Lieferkette und Produktion erhöhten Kosten auch zu tragen.“
Marc-Pierre Möll wird hier deutlicher und warnt angesichts immer mehr Gesetzesvorschriften davor, den Bogen zu überspannen: „Wir unterstützen das Ziel, aber man muss hier wirklich im Gespräch mit der Wirtschaft bleiben und Nachhaltigkeit mit Augenmaß und Pragmatismus vorantreiben. Es gilt sich zu fragen, was kurzfristig realisierbar und auch momentan technisch möglich ist und was im Zweifel den Medizinstandort Deutschland und EU zerstört – und das passiert gerade. Wenn Medizinprodukte dann in Ländern mit viel geringeren Umweltstandards produziert werden, hat man in Sachen Nachhaltigkeit auch nichts gewonnen.“







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