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Abbau stationärer BettenIn Lüneburg kommt die Klinik zum Patienten nachhause

Seit 2014 nimmt die Psychiatrische Klinik Lüneburg an einem Modellprojekt teil. Die mobile Station E64 behandelt 15 Versicherte zu Hause. So werden Wohnzimmer oder Küche der Patienten zum Behandlungszimmer. 

Krankenpflegerin umarmt Seniorin
Robert Kneschke/stock.adobe.com
Symbolfoto

8 Uhr in den Büros der Station E64. Alle Mitarbeitenden, die Dienst haben, sind vor Ort und man spricht in 30 Minuten knapp die heute zu besuchenden Fälle durch. Doch das ist auch schon alles, was an einen normalen Stationsalltag erinnert. Denn danach geht es mit einem der fünf Autos weiter zu den Patienten – nach Hause.

Die Touren sehen jeden Tag anders aus. „Es hängt viel davon ab, wie die Verfassung des Patienten ist und welche Termine anstehen“, berichtet die pflegerische Teamleitung Michaela Frommhagen. Einmal pro Woche findet beispielsweise eine Visite statt, zu der der Arzt die Pflegekraft begleitet. Ergotherapie-Angebote müssen ebenso wie andere Termine der Patienten um die Gesprächsbesuche gelegt werden. Eine nicht immer einfache Aufgabe für die beiden Teams an der PKL.

„Wir kommen mindestens dreimal in der Woche zu den Patientinnen und Patienten nach Hause, maximal fünfmal“, erklärt Frommhagen, die seit Beginn der mobilen Station ohne Betten im Jahr 2018 mit an Bord ist. Für die Patienten gebe es aber im Zweifel auch ein vollstationäres Krisenbett, weiß sie zu berichten.

Anders behandeln, anders arbeiten

Aus dem Modellprojekt, das 2013 von einer Kollegin initiiert wurde, ist mittlerweile eine eigene multiprofessionelle Station geworden, wenn auch ohne Betten. Acht Vollzeitstellen, besetzt mit 13 Köpfen, zählt die Station heute: Ein Oberarzt, ein Arzt, zwei Psychologinnen, drei Pflegekräfte, zwei Genesungsbegleiterinnen, zwei Sozialdienstmitarbeitende und eine Ergotherapeutin sorgen in zwei Teams für die 15 AOK-Patienten, die im Umkreis von 30 Kilometern der Klinik betreut werden.

Während die Sonne scheint, könnte man am heutigen Tag die drei Hausbesuche am Vormittag auch mit dem Rad machen, denn das Team bleibt im Westen von Lüneburg. Doch das ist nicht immer der Fall, denn das Einzugsgebiet der Station reicht beispielsweise im Norden bis in den Landkreis Hamburg-Harburg.

Die Station behandelt ausschließlich erwachsene AOK-Patienten zu Hause – als einziges Klinikum in Niedersachsen. Denn: Noch ist die mobile Station ohne Betten ein ausschließliches Projekt, das die PKL mit der Niedersächsischen AOK hat. Auch wenn sich PKL-Geschäftsführer Jan-Hendrick Kramer wünschen würde, dass sich auch andere Kassen an dem Modellprojekt beteiligen.

Das Modellprojekt ist für mich ein Modell für die Zukunft

Den enormen Vorteil des Modellvorhabens schätzt Kramer sehr: Denn nur so ist der Bürokratieaufwand nicht überbordend und die Ressourcen können nach dem tatsächlichen Patientenbedürfnis gesteuert werden. Frommhagen möchte nicht mehr anders arbeiten, auch wenn die Sitzungen „wesentlich intensiver“ seien, weil man die Zeit exklusiv nur mit dem jeweiligen Patienten verbringe. Man habe zudem mehr Verantwortung als auf Station, es komme kein Nachtdienst, wenn man den Patienten verlässt.

„Diese Art zu arbeiten, muss man wollen“, erklärt Kramer, der durchaus Vorteile in diesem Arbeitszeitmodell sieht. „Ein Job von 8 bis 16 Uhr in der Pflege ist für einige Arbeitnehmende attraktiv“, berichtet er weiter. Als Teammitglied der Station E64 hat man zudem regelhaft die Wochenenden frei. Blickt Kramer auf die Altersstruktur seiner Mitarbeitenden, „müssen auch wir schauen, wie wir die Nachfrage nach psychiatrischen Leistungen mit unserem Personal in Zukunft gedeckt kriegen“.

Für ihn steht also die Frage im Raum, wie die PKL die Patienten nachhaltig und bestmöglich versorgen kann und wie er on top als Arbeitgeber attraktiv wird bzw. bleibt. „Das Modellprojekt ist für mich ein Modell für die Zukunft“, resümiert er die Vorteile des Arbeitens auf der E64 gegenüber dem klassischen Schichtmodell in Kliniken. Seine Rechnung geht auf: Die Nachfrage nach der Mitarbeit im Modellprojekt ist an der PKL hoch und vor allem konstant. Es gibt kaum Wechsel, was auch für die Patienten wichtig ist, die ein stabiles Umfeld und gleiche Ansprechpartner brauchen.

Mobile Versorgung auf vier Rädern

Die PKL zeigt seit zehn Jahren, wie man vollstationäre Behandlungen reduzieren oder gar vermeiden kann. Die Patientenbesuche daheim bieten aber noch mehr. Das Team sieht und erlebt die Patienten zu Hause, sieht wie sie sich eingerichtet haben. „Manchmal sind wir positiv überrascht und sehen ein gemütliches Umfeld, in dem sich der Patient eingerichtet hat, obwohl er schwere, zum Teil sogar schwerste Krankheitsverläufe hat. Wir sehen aber auch Wohnungen, die das eigentliche Problem verstärken. Ich habe auch schon auf einer Selterkiste gesessen und Gespräche geführt“, erklärt Frommhagen. Dann wird das Team erfinderisch und besorgt auch einmal Möbel.

An der PKL gibt es zwei Claims, die von Anfang an als Leitsätze dienten: „Gewisse Patienten sind zu krank, um in einem Krankenhaus gesund zu werden.“ und „Die stationäre Behandlung eines Patienten ist an keinen Ort gebunden.“ Diese Leitgedanken stehen bis heute für das Modellprojekt Pate. Therapieeinheiten werden zu Hause bei den Patienten durchgeführt.

Manchmal ist es aber auch angezeigt, den Patienten zu aktivieren und in die PKL einzubestellen. „Es hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, dass wir eine feste Station brauchen, die gleichzeitig mobil ist und die Patienten zu Hause aufsucht“, führt Kramer aus. Das einzig feste auf der E64 sind die beiden kleinen Teams – alles andere ist mobil.

Modellvorhaben nach § 64 b SGB V

Es besteht unbestreitbar ein akuter Notstand bezüglich der psychiatrischen Versorgung. Mit den Modellvorhaben nach § 64 b wollte man die Versorgung psychisch kranker Patienten weiterentwickeln und verbessern. Die Gesamtdaten der 17 Modellprojekte in Deutschland zeigen, dass diese Form der Versorgung der Regelversorgung überlegen ist. Nicht nur Kramer in Lüneburg wartet darauf, dass die Modellprojekte dauerhaft in die Regelversorgung übergehen.

Dr. Thomas Schillen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hanau, hofft auch auf eine baldige Umsetzung der Empfehlung der Regierungskommission. Er ist sich sicher, dass es zu strukturellen Änderungen nur kommen kann, wenn alle Kassen bei den Modellprojekten mit an Bord sind.

In Hanau gab es bereits 2011 ein Vertrag zur integrierten Versorgung mit der AOK Hessen und der TK. Bereits nach neun Monaten Laufzeit wurden im Zuge dieses Vertrages auf einer Station die Betten komplett geschlossen, das Team arbeitete nur noch akutambulant. Das Klinikum war 2013 dann auch die erste Klinik in Deutschland, die nach § 64 b einen integrierten Versorgungsvertrag „Optimierte Versorgung in der Psychiatrie“ mit allen Kassen vereinbart hat. Mittlerweile werden mehr als 40 Prozent der Patienten mit stationärer Behandlungsindikation in einem akutambulanten Setting mit stationsäquivalenter Therapiedichte behandelt.

Das bedeutet, dass alle vier Stationen 17 stationäre Betten haben und 13 Plätze für die ambulante Akutversorgung. „Wir haben mit dem Modellbeginn sehr schnell gemerkt, dass eine reine ambulant tätige Station schwer realisierbar ist und habe diese eine Station wieder zurückgewandelt“, erklärt der erfahrene Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Da die Ambulantisierung und die sektorübergreifende Versorgung im Rahmen der Krankenhausstrukturreform eine wichtige Rolle spielt, ist diese Form der flexiblen patientenorientierten Versorgung eine wirkliche Perspektive und Alternative für die psychiatrische Versorgung in Deutschland. Jedoch bedarf es auch dafür ausreichende Personalressourcen. „Andernfalls ist die Ambulantisierung akuter Patienten nicht nachhaltig aufrecht zu erhalten und potenziell gefährlich“, erklärt Dr. Schillen.

Nicht alles Gold, was glänzt

Die große Kritik Kramers am Modellvorhaben ist, dass es trotz Evaluation und erwiesener Vorteile nach zehn Jahren noch nicht in die Regelversorgung überführt worden ist. „Der Branche ist klar, aufsuchende Behandlung hat einen positiven Effekt. Aber Modellvorhaben bleibt Modell und das nervt mich natürlich“, antwortet der Krankenhausmanager auf den wunden Punkt angesprochen. Immerhin konnte er das gerade wieder einmal ausgelaufene Modellvorhaben jüngst bis Ende 2028 verlängern. Man merkt ihm aber an, wie mühselig der Prozess war. Denn auch auf Kassenseite wechseln die Ansprechpartner und es geht eben nicht immer alles seinen geregelten Gang.

Er setzt jetzt seine Hoffnung auf die Stellungnahme der Regierungskommission, die die Erfolge der Modellvorhaben hervorgehoben hat. Aber es ist nur eine Empfehlung. „Was ich mir wünschen würde, ist ein klarer gesetzlicher Rahmen in der Regelversorgung, wo diese Art der aufsuchenden Behandlung möglich ist, ohne alle zwei Jahre einen neuen Antrag zu stellen“, erklärt Kramer, der Planungssicherheit auch für sein Team haben möchte.

3 Fragen an Geschäftsführer Jan-Hendrik Kramer

Wie ist die Reaktion der Patientinnen und Patienten auf das Modellprojekt?

Jan-Hendrik Kramer: Wir haben bislang ausschließlich positive Rückmeldungen erhalten und Erfahrungen mit mehreren Patientenclustern gesammelt. Vor allem die Patienten, die chronifiziert und seit Jahren Dauergast in der Psychiatrie sind, profitieren von diesem Angebot. Sie sind wesentlich stabiler und haben weniger Krisen. Denn: Die Patientinnen und Patienten empfinden die Zeit, die man bei ihnen verbringt, als wesentlich intensiver und sind froh, dass sie nicht in die Klinik müssen. Denn dort waren sie meist schon mehrfach und das ist kein Wohlfühlort für sie.

Es gibt Menschen, die brauchen einfach auch diesen geschützten Raum, und sind froh, dass sie diesen von uns bekommen. Und es gibt auch diejenigen, die beispielsweise einen Hund oder eine Katze haben, und daher nicht in die Klinik wollen. Es stürzt sie in eine Krise, ihre tierischen Mitbewohner allein zu lassen. Auch für diese Menschen ist das Angebot sehr hilfreich. Im besten Fall steuern wir den Patienten bereits vor dem stationären Aufenthalt ins Home-Treatment um.

Jan-Hendrik Kramer ist studierter Krankenhausmanager und seit 2021 Geschäftsführer an der Psychiatrischen Klinik Lüneburg (PKL). Der aus Ostfriesland stammende mittlerweile 37-Jährige ist seit 2022 zudem Teil im Geschäftsführer-Trio der Gesundheitsholding Lüneburg.

Was braucht es für eine erfolgreiche Umsetzung?

Zuallererst eine Kultur des Vertrauens. Die Partnerschaft zwischen den teilnehmenden Krankenkassen und den Leistungserbringern sollte nicht von der üblichen Misstrauenskultur zwischen Kostenträgern und Kliniken geprägt sein. Wir haben mit der AOK Niedersachsen hier einen Partner an unserer Seite, mit dem wir schon seit Jahren ein wertschätzendes und vertrauensvolles Verhältnis pflegen. Unser beider Ziel war es, ein neues und flexibles Versorgungsmodell zu entwickeln, das patientenorientiert ist und nicht renditeorientiert.

Das Herzstück des Modellvorhabens liegt in der stationsersetzenden Behandlung. Die vollstationäre Behandlung soll reduziert werden, ein Teil des Budgets fließt hierfür in teilstationäre und ambulante Leistungen.

Ist der Vertrag ausgehandelt, braucht es jedoch noch das Personal. Denn nun beginnt die eigentliche Arbeit: Das Projekt innerhalb der Organisation umsetzen und sowohl im eigenen Haus als auch bei den Zuweisern die Akzeptanz zu stärken. Wir hatten bei uns zum Glück eine Oberärztin, eine Pflegekraft und eine Sozialarbeiterin, die sich über die Maße dieses Themas angenommen haben und Treiber des Modellvorhabens waren. Ohne die geht es nicht.

Wurden die gesteckten Ziele erreicht?

Seit zehn Jahren funktioniert das Modellprojekt hier in Lüneburg sehr gut. Die mittlerweile 15 Behandlungsplätze sind bei uns immer vergeben und wir würden uns wünschen – gerade vor dem Hintergrund der Ambulantisierungsbestrebungen aus Berlin, dass das Konzept Schule macht und noch weitere Krankenkassen diesem Modellprojekt beitreten. Das bedeutet nicht, dass es ausschließlich diese Möglichkeit der Behandlung geben soll. Wir brauchen beide Angebote. Dennoch ist die mobile Form der Unterstützung derzeit noch unterrepräsentiert.

Unsere Datenanalyse zeigt, dass entgegen des bundesweiten Trends in Lüneburg die Zahl der Betten im Fachbereich Psychiatrie und Psychotherapie rückläufig ist. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren 12 vollstationäre Betten abgebaut und das teilstationäre Angebot in der Fläche ausgebaut. Der Anteil der vollstationären Behandlungstage konnte bei den AOK-Patienten um etwa 20 Prozent gesenkt werden.

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