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Der kma Entscheider-Blog

kma Entscheider BlogLetzte Chance das Gesundheitswesen zu transformieren

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich ein relativ robustes Gesundheitssystem hat. Dennoch existieren Schwachstellen, deren Ausbesserung nun endlich angegangen werden muss!

Philipp Köbe
Philipp Köbe ist freiberuflicher Dozent und Unternehmensberater im Gesundheitswesen.

Bei der Bewältigung der Pandemie zeigt die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems ein zweigeteiltes Bild. Einerseits verfügen wir hierzulande über üppige Klinikkapazitäten und hervorragend ausgebildetes Personal, wodurch es uns sogar möglich war unseren Nachbarländern Intensivpatienten abzunehmen. Andererseits sorgten Engpässe beim Material und der personellen Einsetzbarkeit insbesondere von Pflegekräften sowie die mangelnde Nutzung digitaler Instrumente für Unbehagen, Resignation und Überforderung.

Neue Diskussion über Bettenkapazitäten

Medial wurden national wie international die „kaputt gesparten Gesundheitssysteme“ kritisiert. Allen voran in Ländern wie Großbritannien oder Italien, die mit besonders großen Versorgungsproblemen in der Pandemie zu kämpfen haben. In Deutschland entbrannte währenddessen eine Diskussion, ob wir nicht doch besser an den Überkapazitäten der Betten festhalten sollen. Schließlich sollten wir froh sein über die flächendeckend umfangreichen Klinikkapazitäten.

Dabei werden jedoch zwei Aspekte falsch eingeschätzt. Erstens die Häufigkeit der vollen Kapazitätsnutzung: In den vergangenen Jahren arbeiteten zahlreiche Kliniken in ländlichen Regionen mit geringem Auslastungsgrad. Deutschland hat nach wie vor im internationalen Vergleich sehr viele Krankenhausbetten. Wenn diese Betten nicht ausgelastet sind mit Patienten, müssen die dennoch entstehenden Kosten für die Vorhaltung bezahlt werden. Also müssen wir darüber sprechen ob wir diese Vorhaltekapazitäten wollen und wie wir sie finanzieren.

Zweitens können die schweren Corona-Fälle nicht in jeder Klinik auf dem Land behandelt werden, sondern bedürfen einer umfangreichen intensivmedizinischen Versorgung, die größtenteils in Zentren und an größeren Klinikeinheiten, wie Uniklinika, betreut werden. Die seit Jahren diskutierte These einer spezialisierten qualitätsorientierten Versorgung in wenigen Zentren sollte damit auch erneut im Mittelpunkt stehen.

Eine sachliche Diskussion darüber welche Versorgungskapazitäten wir in Deutschland zukünftig haben wollen, steht auf der Tagesordnung. Dazu benötigen wir endlich konkrete Ansätze zum Umbau und der Finanzierung dieser Veränderung.

Verbesserung der Arbeitsbedingungen von medizinischem Personal

Rückblickend werden Pflegekräfte über das Jahr der Pflege sagen, dass außer Klatschen und Gratispizza nicht viel rumgekommen ist. Keine höhere Bezahlung, keine besseren Arbeitsbedingungen, keine Wertschätzung der geleisteten Arbeit über einen kurzen Applaus hinaus.

Die Politik hat den Pflegebonus so ausgestaltet, dass ihn nur sehr wenige Pflegende tatsächlich erhalten. Zudem wurden die Bedingungen noch verschärft indem Personaluntergrenzen ausgesetzt wurden und Pflegende teilweise trotz positivem Corona-Test zur Arbeit erscheinen sollen, wenn keine Symptome vorliegen.

Indem eine konsequente Teststrategie in Gesundheitseinrichtung bis zum Herbst 2020 nicht umgesetzt wurde, gefährdete die Politik das Leben von Patienten und Personal! Wenn das Gesundheitssystem in den kommenden Jahren kollabieren sollte, dann an einer Überlastung des Personals.

Auch bei den Ärzten sieht es nicht wesentlich besser aus. Die Corona-Pandemie gibt einen letzten Warnschuss ab, dass in diesem Jahr mehr für eine bessere Arbeitsumgebung getan werden muss. Der Auftrag an die Pflegenden selbst lautet: organisiert euch endlich besser! Es ist absolut unverständlich, dass Ärzte und Apotheker deutlich mehr Forderungen durchsetzen können als Pflegende, obwohl die Interessengruppe jener viel geringer ist.

Möglicherweise ist „die Pflege“ auch ein relevantes Thema für den Bundestagswahlkampf 2021 in einer alternden Gesellschaft.

Digitalisierungsdesaster an allen Ecken und Enden

Wenn sich Deutschland irgendwo in der Welt blamieren will, dann muss nur von der Digitalisierung des öffentlichen Sektors berichtet werden. Auf Twitter werden im Wochentakt Witze über das Faxen oder die umständliche analoge Papierarbeit verbreitet. Digitalexperten wundern sich seit vergangenem Herbst, dass die Corona-Warn-App nicht weiterentwickelt wurde, wo sie doch gleichermaßen nutzlos wie überteuert zu sein scheint.

Zudem wurde seit neun Monaten der Pandemie keine einheitliche, vernetzte und digital-gestützte Ausstattung der Gesundheitsämter vorgenommen. Beides liegt im Aufgabenbereich der Politik und ist 2021 dringend nachzubessern! Auch die Nine-to-Five Mentalität mit der scheinbar während einer Pandemie bei den Ämtern gearbeitet wird, während Menschen in Gesundheitsberufen teilweise zehn und mehr Tage durcharbeiten, in Schichten und Schutzausrüstung, ist unverständlich.

Warum der Staat keine größeren Anstrengungen unternimmt, ist äußert fraglich. Der nächste Punkt ist nun die Terminierung der Impfungen. Es darf im 21. Jahrhundert keine große Hürde mehr sein, einen Termin über verschiedene Kanäle bereitzustellen. Immerhin kann ich seit schon seit mindestens zehn Jahren einen Flug über das Internet, das Telefon oder am Schalter am Flughafen buchen. Wir müssen endlich anfangen die verfügbaren Technologien auch im öffentlichen Sektor einzusetzen! Möglicherweise muss der Markt für privatwirtschaftliche Unternehmen geöffnet werden, wenn Ämter und Bürokratie an dieser Stelle nicht vorwärtskommen.

Finanzierungslücken schnell thematisieren und schließen

Die noch bestehende umfangreiche Kurzarbeiterregelung täuscht darüber hinweg, dass nach der Pandemie möglicherweise hunderttausende Menschen keinen Arbeitsplatz mehr haben werden. Zudem führen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung voraussichtlich zu einem Massensterben von Kleinunternehmen im Handel und der Gastronomie, möglicherweise auch bei freien Berufen.

Die bevorstehende Wende des Einzahlerrückgangs in den sozialen Sicherungssystemen könnte durch die Pandemie noch deutlich früher eintreten. Szenarien in denen die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen mit deutlichen Einbußen auf der Einnahmenseite bei etwa gleichbleibender oder steigender Ausgabenbelastung konfrontiert werden, müssen 2021 ebenfalls eine maßgebliche Rolle spielen.

Was würde das für die Beitragssätze bedeuten und damit auch für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen? Oder wie könnten die Ausfälle vorübergehend mit Steuermitteln ausgeglichen werden, damit die Beitragssätze nicht nach oben schießen? Kann der Corona-Hilfsfond der EU dafür angezapft werden? Sollten diese Szenarien letztendlich nicht eintreten, können sie dennoch als Blaupause für die 2030er Jahre genutzt werden.

Das Aufgabenfeld für 2021 ist umfassend. Im Hinblick auf die Bundestagswahl besteht die Hoffnung, dass sich die Politik tiefergehend mit den Fragen befasst und Lösungsstrategien für ein nachhaltiges und zukunftsfähiges Gesundheitssystem entwickelt. Scheinbare Vorzüge gegenüber der ausländischen Gesundheitsversorgung dürfen nicht über bestehende Schwachstellen hinwegtäuschen. Bei der Entwicklung von Lösungen und der Formulierung von Zielen sind auch alle Akteure der Selbstverwaltung sowie die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Und zwar schnell!

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