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ChanceBessere Versorgung durch Primärversorgungszentren

Primärversorgungszentren könnten die Gesundheitsversorgung verbessern, indem sie medizinische und soziale Dienste vereinen. Eine geplante Gesetzesinitiative wurde aber gestrichen. Schweden und Österreich zeigen jedoch, dass die Zentren sich bewähren.

Kleine Holzfiguren sind in einem Kreis angeordnet
Andrii Yalanskyi/stock.adobe.com
Symbolfoto

Primärversorgungszentren (PVZ) bündeln verschiedene medizinische und soziale Dienste unter einem Dach und bieten eine wohnortnahe Versorgung durch multiprofessionelle Teams. Der Ausbau und die Förderung von PVZ sind nicht nur Bestandteil des Koalitionsvertrages, sondern finden sich auch in den unterschiedlichen Gesetzesentwürfen der aktuellen Gesundheitspolitik wieder, insbesondere im ersten Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG).

PVZ bieten eine erste Anlaufstelle für Patienten und ermöglichen eine koordinierte, multiprofessionelle Betreuung, die weit über die rein medizinische Versorgung hinausgeht. Vor allem in strukturschwachen und ländlichen Gebieten können PVZ die angespannte Versorgungssituation entschärfen. Die Behandlung erfolgt in multiprofessionellen Teams. Das bedeutet, dass Ärzte, Pflegekräfte, Therapeuten sowie andere Gesundheitsberufe gleichberechtigt zusammenarbeiten, um eine umfassende Versorgung zu gewährleisten.

In Ländern wie Finnland, Schweden und Kanada sind solche Strukturen bereits etabliert und haben sich bewährt. Auch in Deutschland fordern Experten seit langem die Primärversorgung zu stärken und auszubauen. Zusätzlich sollen Angebote durch Community Health Nurses (CHN) und Gesundheitslotsen im ländlichen Raum erweitert werden. In diesem Rahmen soll im Folgenden ausführlicher auf die Entwicklung des GVSG eingegangen werden.

Erster Entwurf

Der erste Referentenentwurf des GVSG, veröffentlicht im Juni 2023, enthielt Bestimmungen zur Errichtung und zum Betrieb von PVZ. Der Entwurf sah vor, dass PVZ nur in Regionen mit festgestellter Unterversorgung entstehen dürfen und mindestens drei hausärztliche Versorgungsaufträge benötigen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung kritisierte, dass neben bestehender Sektoren durch das Gesetz neue Ebenen und Zuständigkeiten geschaffen würden, die wahrscheinlich nicht bedient werden können. Zudem sei es in ländlichen Regionen kaum möglich, drei hausärztliche Versorgungsaufträge umzusetzen.

Im Dezember 2023 wurde der Entwurf überarbeitet. Die Änderungen zwischen den Entwürfen vom Juni und Dezember umfassten eine Straffung der Anforderungen und Prozesse. Die Berechtigung zur Einrichtung von Primärversorgungszentren wurde präzisiert, ebenso wie die Anforderungen an die Kooperationen, jetzt explizit auch mit den jeweiligen Kreisen oder kreisfreien Städten.

Die Anerkennung durch die Kassenärztliche Vereinigung war klarer formuliert. Zudem wurden die Anforderungen an den Bundesmantelvertrag und den Bewertungsausschuss kompakter zusammengefasst. Vertreter ländlicher Regionen bemängelten, dass die Voraussetzungen für die Gründung von PVZ weiterhin zu hoch seien und die interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht ausreichend gefördert werde.

Streichung der PVZ im Referentenentwurf

Im Referentenentwurf vom 12. April 2024 wurden die PVZ sowie die geplanten Gesundheitskioske und Gesundheitsregionen überraschend gestrichen. Diese Entscheidung führte zu Widerstand und Kritik von verschiedenen Seiten, darunter der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe und der AOK-Bundesverband. Diese betonten, dass eine nachhaltige und zukunftsweisende Verbesserung der Gesundheitsversorgung dadurch gefährdet sei. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung jedoch bewertete die Streichung der primärärztlichen Versorgungszentren als positiv.

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Empfehlungen des Bundesrates

Im Juli 2024 brachte der Bundesrat Empfehlungen ein, die die Wiedereinführung der PVZ in das GVSG forderten. Diese Empfehlungen beinhalteten unter anderem:

  • Erweiterung des Versorgungsspektrums: Neben hausärztlicher Versorgung sollen PVZ je nach regionalem Bedarf auch pädiatrische, gynäkologische, psychotherapeutische und weitere medizinische Grundversorgung anbieten können.

  • Niedrigere Hürden für die Gründung: Die Mindestanforderung von drei hausärztlichen Versorgungsaufträgen wurde auf einen hausärztlichen Versorgungsauftrag gesenkt, um die Gründung von PVZ auch in ländlichen Regionen zu ermöglichen.

  • Kooperative Leitung: Es wurde vorgeschlagen, dass PVZ nicht nur von Ärzten geleitet werden können, sondern auch eine kooperative fachliche Leitung durch verschiedene Gesundheitsberufe möglich sein sollte.

  • Finanzierung und Vernetzung: Die Finanzierung sollte durch eine Kombination aus Mitteln der Kranken- und Pflegeversicherung, kommunalen Mitteln und Steuergeldern gesichert werden. Zudem wurde die Bedeutung der Vernetzung mit kommunalen Diensten und Präventionsangeboten hervorgehoben.

  • Case Management: Der Bundesrat betont zudem auch die Rolle von Case Managern innerhalb der PVZ zu implementieren. Diese sollen insbesondere bei der Koordination der Versorgung, der Organisation von Behandlungsabläufen und der Unterstützung von Patienten in komplexen Fällen helfen.

Schweden und Österreich

Ein Blick ins europäische Ausland kann wertvolle Orientierung bieten, wie die erfolgreiche Umsetzung von Primärversorgungszentren gelingen kann. Die schwedischen Versorgungszentren zeichnen sich durch multiprofessionelle Ansätze, eine starke gemeindenahe Versorgung, ein breites Leistungsspektrum, die Integration verschiedener Angebote der Akut- und Langzeitversorgung sowie die offensive Nutzung digitaler Technologien aus. Es werden unter anderem Pflegefachkräfte eingesetzt, die nach akademischer Qualifizierung anspruchsvolle Aufgaben übernehmen und auch arztentlastend tätig werden. Die Versorgungszentren zeichnen sich durch eine pragmatische, partnerschaftliche und kommunikative Kooperationskultur aus.

Auch bei unseren Nachbarn in Österreich werden auf Basis des 2023 in Kraft getretenen Primärversorgungsgesetzes sogenannte Primärversorgungseinheiten (PVE) in die Versorgungslandschaft implementiert. Derzeit gibt es 69 PVE, in denen mindestens zwei Ärzte für Allgemeinmedizin, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen, Ordinationsassistenten und gegebenenfalls Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde tätig sind.

Projekte in Deutschland

Auch in Deutschland gab und gibt es Ansätze, um das Konzept der Primärversorgungszentren zu konkretisieren und in der Versorgungsrealität zu testen und evaluieren. Ein Beispiel hierfür ist der von der Robert-Bosch-Stiftung erprobte Ansatz der PORT-Projekte. Diese Projekte sollen zeigen, wie die Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsberufe in einem Zentrum zu einer besseren und koordinierten Patientenversorgung führt.

Ein weiteres Beispiel ist das Innovationsfondsprojekt PRIMA in Baden-Württemberg, das die Transformation von Hausarztpraxen zu multiprofessionellen Primärversorgungszentren mit Pflegefachpersonen fördert. Das Projekt startet im Januar 2025. Ziel ist es, die Integration von Pflegefachpersonen in den Praxisalltag zu stärken und das Versorgungsspektrum zu erweitern.

Woran noch gearbeitet werden muss

Es gibt allerdings noch eine Reihe von Aspekten, die vor einer flächendeckenden Einführung von PVZ präzisiert werden müssen:

  • Finanzierung und Förderung: Die Finanzierung von PVZ sollte langfristig gesichert werden, beispielsweise durch Mittel der Kranken- und Pflegeversicherung, kommunale Fördermittel und Steuergelder. Eine Anschubfinanzierung aus Mitteln des Strukturfonds ambulant und des Krankenhausstrukturfonds wäre sinnvoll.
  • Regulatorische Rahmenbedingungen: Es bedarf klarer Regelungen zur Heilkundeübertragung und zur Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen. Zudem sollte die Anerkennung und Integration weiterer Gesundheitsberufe wie CHN und Physician Assistants gefördert werden.
  • Kooperation und Vernetzung: Die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren wie Fachärzten, Pflegestützpunkten und Krankenkassen ist entscheidend für den Erfolg der PVZ. Hier sollten verbindliche Kooperationsvereinbarungen und Vernetzungsstrukturen etabliert werden.
  • Qualitätsmanagement: Es sollten Indikatoren für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität entwickelt und entsprechende Daten generiert werden, um ein bedarfsgerechtes Management der Angebote zu gewährleisten.
  • Patientenzentrierung und Gesundheitskompetenz: Die Mitarbeitenden in den Zentren sollten ein gemeinsames Gesundheitsverständnis verinnerlicht haben, welches die Lebenswelt und -realität der Patienten ebenso berücksichtigt wie die medizinischen und pflegerischen Gegebenheiten.
  • Case Management: Die Integration von Case Managern in die PVZ ist relevant, um eine nahtlose und für die Ärzte entlastende Versorgung zu gewährleisten. Diese Fachkräfte können die Patienten durch das Gesundheitssystem leiten, wodurch das Nebeneinander von Unter-, Fehl- und Überversorgung ein Stück weit abgebaut werden könnte.

Primärversorgungszentren können ein wesentlicher Baustein zur Sicherung einer flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung in Deutschland sein. Durch die Bündelung verschiedener Gesundheits- und Sozialdienste unter einem Dach, die Förderung interdisziplinärer Zusammenarbeit und die Nutzung digitaler Technologien können PVZ einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Gesundheitswesen leisten. Es ist nun an der Politik und den Gesundheitsakteuren, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen und die Umsetzung dieses vielversprechenden Konzepts konsequent voranzutreiben.

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DGIV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) ist ein deutschlandweit agierender Verein mit der Zielsetzung, die Integrierte Versorgung in der medizi-nischen, pflegerischen und sozialen Betreuung als Regelfall durchzusetzen. Die DGIV wurde am 26. September 2003 in Berlin gegründet. Ziel der Gründungsmitglieder war es, die Integrierte Versorgung als alternative Versorgungsform zur damaligen Regelversorgung zu entwickeln und letztendlich durchzusetzen.