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DGIV Kongress 2022Zwischenfazit und anstehende Aufgaben

Ein Jahr ist es her, dass die neue Ampelregierung einen „Neustart“ versprochen haben. SPD, FDP und Grüne legten einen ehrgeizigen Koalitionsvertrag vor und widmeten acht Seiten verschiedenen Ansätzen zur Verbesserung der deutschen Gesundheitspolitik.

Versammlung
kasto/stock.adobe.com
Symbolfoto

Bislang allerdings sind Fortschritte bei der integrierten Versorgung nicht zu erkennen. Die neuen Initiativen sind bruchstückhaft und berühren kaum die Oberfläche des Problems im Gesundheitswesen. Anhaltende Krisen haben zudem die Umsetzung dieser Maßnahmen erschwert. Die DGIV hat die Vorgänge aufmerksam verfolgt und wird nun bei ihrem diesjährigen Kongress eine Zwischenbilanz ziehen.

Das GKV-Finanzierungsproblem ist einer der immanenten Widerstände, die unser Gesundheitssystem weiterhin plagen. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das trotz der ihm innewohnenden Mängel eingeführt wurde, ist stark kritisiert worden. Ausdrücklich ausgeschlossen hat der Minister beispielsweise einmal mehr Leistungskürzungen. Was wir aber vor allem brauchen ist die Hebung von Effizienzreserven! Das ist wohlfeil – nur leider nicht so einfach und rasch umzusetzen. Der vom Minister angekündigte „Zwischenspurt“, der dazu dienen soll, das Gesundheitssystem „jenseits von Corona“ weiterzuentwickeln, ist hier allerdings nicht besonders konkret: Vor allem Kommissionen sollen es mal wieder richten – und das wusste man eigentlich schon. Druck im Kessel gab und gibt es augenscheinlich vor allem beim Thema Cannabis – aber das ist ein anderes Kapitel.

Innovationsprojekt Gesundheitskiosk

Überraschung auch bei einem weiteren konkreten Vorhaben, das auf den ersten Blick wie ein Spezialthema aussieht: der Aufbau von Gesundheitskiosken in sozialen Brennpunkten als Regelversorgung. Bei genauerem Hinsehen tatsächlich ein Projekt, das mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt: Prävention, Regionalisierung, kommunale Mitverantwortung ... Das positiv bewertete Innovationsprojekt aus Hamburg Billstedt/Horn hat es damit zu höchsten ministeriellen Weihen gebracht und gezeigt, dass der Innovationsfonds vielleicht doch funktioniert. Man hätte die Zuwendung zu diesem Projekt nicht ganz so exponiert zu diesem Zeitpunkt erwartet, aber die Pläne zu einer Etablierung ähnlicher Initiativen in anderen Regionen sind zweifellos verdienstvoll und schlagen in vielerlei Hinsicht in die richtige Kerbe.

Grundsätzlich und wichtig werden – wenn sie denn kommen – auch die Pläne des Ministers zu einer Formulierung der im Koalitionsvertrag niedergelegten OptOut- Regelung bei der elektronische Patientenakte. Denn nicht nur die allgemeine ePA-Durchdringung soll damit deutlich verbessert werden, interessant ist auch der Fokus, den Lauterbach dem Projekt nun explizit mit auf den Weg zu geben verspricht: Vordringliches Ziel der ePA solle es nämlich nun werden, den Datenfluss der Krankenhausbehandlung zu den weiter versorgenden Fach- und Hausärzten zu gewährleisten. Wenn das klappt, müssten Patienten nicht mehr buchstäblich Briefträger ihres eigenen Behandlungsdaten-Umschlags an die weiterbehandelnden Vertragsärzte sein, sondern erstmals könnte der ärztliche Datenaustausch digital und über die Sektorengrenze hinweg abgebildet werden. Das wäre in der Tat ein großer Schritt nach vorne. Also: In den kurz vor der Sommerpause präsentierten Plänen des Ministers konkretisieren sich wichtige Einzelprojekte, deren Entwicklung man im Auge behalten muss, Ansätze zu einem größeren Umbau des Gesamtsystems sind allerdings nicht zu erkennen. Was wir dringend brauchen, ist der Wandel in ein intersektorales und interprofessionelles Gesundheitssystem.

In diesem Kontext haben die letzten beiden Jahre buchstäblich jedem – egal ob krank oder gesund – deutlich vor Augen geführt, dass eben eine Zusammenführung von Gesundheitsdaten durchaus sinnvoll ist, um Klarheit über das pandemische Geschehen (und die damit verbundenen Einschränkungen der individuellen Freiheit) zu erlangen. Diesen Schwung sollte der Minister nutzen, um sich – wie es auch der Koalitionsvertrag ankündigt – möglichst rasch um ein „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“ zu kümmern. Und nicht der seit Jahrzehnten kultivierte Datenschutz sollte dabei – aus Perspektive der Gesundheitsversorgung – im Fokus stehen, sondern die Potentiale, Daten zum allgemeinen und individuellen Gesundheitsschutz zu vereinen. Der Claim des Sachverständigenrats „Daten teilen, besser heilen“ darf dabei ruhig Pate stehen.

Kein Hinderungsgrund sollte in diesem Kontext die vielzitierte europäische Datenschutzgrundverordnung sein (die übrigens auch in Dänemark und Österreich gilt!). Sie nämlich nennt in ihrem Artikel 9 gerade für den individuellen und kollektiven Gesundheitsschutz zahllose Ausnahmen, die nun schlicht in Bundesrecht übertragen werden müssten, um auch in Deutschland jenseits der Landesdatenschutzregelungen Anwendung zu finden. Die DGIV hat hier nicht nur ein „Denkpapier“ zur Digitalisierung vorgelegt, sondern sich in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg) auch in einer umfangreichen Publikation grundlegend zur Telemedizin geäußert. Informationen hierzu finden sich auf unserer Webseite.

Was passiert mit der ambulanten Versorgung?

Eine weitere Herausforderung liegt in der Neuaufstellung der ambulanten Versorgung. Dienstleistungen von Apotheken auf der einen Seite, Krankenhäuser, die vermehrt ambulante Leistungen erbringen sollen, auf der anderen, und dann kommen noch investorengetriebene Medizinische Versorgungszentren und kaufen im großen Stil freie Arztsitze auf. Es ist ganz eindeutig ein Berufsbild in der Krise. Dabei wird der Arztberuf gerade in der Fläche so nötig gebraucht wie nie. Schon jetzt finden Familien, die berufsbedingt zum Wohnortwechsel gezwungen sind, keine grundversorgenden Haus- oder Kinderärzte mehr, schon jetzt ist „auf dem platten Land“ eine ärztliche Versorgung schwierig und oft mit langen Wegen verbunden.

Die Ärzteschaft hätte also alle Joker in der Hand, die politischen Rahmensetzungen zu bestimmen und konstruktive Vorschläge vorzulegen, um den Berufstand in einem neuen, modernen Licht erstrahlen zu lassen. Doch die ganze Argumentation aus vertragsärztlicher Perspektive ist fast ausschließlich rückwärtsgewandt und an der Bewahrung eines längst obsolet gewordenen Status Quo orientiert. Zielführend und hilfreich wäre eine offene Diskussion darüber, was tatsächlich von Arzt oder Ärztin getan werden muss – und was eben nicht. Andere Länder machen jedenfalls deutlich, dass nicht-ärztlichen Gesundheits- und Pflegeberufe wesentlich mehr Kompetenzen und Versorgungsverantwortung zugesprochen werden können, ohne dass sich der Eindruck manifestiert, hier würde mit der Patientensicherheit Schindluder getrieben.

In eine solche Diskussion muss dann zwingend auch das Nachdenken um die Zukunft der Krankenhäuser einbezogen werden: Es mehren sich die Ansätze (personell eng verbunden mit der DGIV übrigens), die die Zukunft vor allem kleinerer Krankenhäuser nicht mehr als ausschließlich stationäre Leistungsanbieter sehen, sondern die ambulant-stationäre Versorgungseinheiten konzipieren, deren konkreter Bedarf auf die jeweiligen regionalen Notwendigkeiten reagiert und dabei ambulante, stationäre und vielleicht auch geriatrisch-pflegerische Angebote verknüpft. Bei der konkreten Ausgestaltung entsprechender Intersektoralen Gesundheitszentren sollte dann auch den Kommunen eine wichtige Aufgabe zufallen.

Was wir jedenfalls brauchen, ist ein Wandel hin zu einem sektoren- und berufsübergreifenden Gesundheitssystem, das Versorgungsbrüche überwindet und eine barrierefreie Patient Journey gewährleistet. Hat die Ampelregierung bei dieser notwendigen Modernisierung des Gesundheitswesens schon etwas erreicht? Und was muss in dieser Legislaturperiode noch erreicht werden? Diese und weitere Fragen werden auf dem 19. DGIV-Bundeskongress im November 2022 ausführlich gestellt – und soweit wie möglich beantwortet.

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DGIV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) ist ein deutschlandweit agierender Verein mit der Zielsetzung, die Integrierte Versorgung in der medizi-nischen, pflegerischen und sozialen Betreuung als Regelfall durchzusetzen. Die DGIV wurde am 26. September 2003 in Berlin gegründet. Ziel der Gründungsmitglieder war es, die Integrierte Versorgung als alternative Versorgungsform zur damaligen Regelversorgung zu entwickeln und letztendlich durchzusetzen.