
Die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ gibt Impulse für eine Modernisierung des Staates und seiner Institutionen. Akteure des Gesundheitswesens sollten Ihre Stimme erheben und sich aktiv in die Staatsmodernisierungsdebatte einbringen.
„Deutschland erneuern“ – der Staat in der Überforderungsschleife
Die Diagnose ist deutlich, die Symptome chronisch, die Therapien bleiben oft symptomatisch: Der Staat stößt immer mehr an seine Grenzen. Wer in den letzten Jahren versucht hat, ein Bauprojekt genehmigen zu lassen, eine Fachkraft aus dem Ausland einzustellen oder eine neue Versorgungsstruktur im Gesundheitswesen aufzubauen, kennt die systemischen Schwächen: zu viele Akteure, zu viele Regeln, zu wenig Entscheidungsspielraum, schleppende Digitalisierung, Verantwortungsdiffusion, und vor allem ein tief verankerter Hang zur Beharrung. Deutschland hat keinen Mangel an Gesetzen – sondern an Steuerungsfähigkeit. Die Probleme sind so umfangreich, dass die Bürger das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und seine Institutionen zu verlieren drohen.
Vor diesem Hintergrund wurde die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ ins Leben gerufen. Ihr Anspruch: „Blockaden und Selbstblockaden staatlichen Handelns aufzulösen“ und Impulse setzen, die notwendige strukturelle Erneuerung des Staates anzustoßen. Zentral ist dabei der Perspektivwechsel: Weg von der Verwaltung des Bestehenden, hin zu einer gestaltenden, lösungsorientierten und agilen Staatlichkeit. Ein funktionierender Staat ist mehr als ein gut geölter Regelvollzugsapparat: Er ist ein lernendes, strategisch denkendes System, das mit Unsicherheit umgehen kann. Zur Umsetzung der Vorschläge liegt der Ball nun im Feld der Politik, aber die Gesellschaft muss zum Aufbrechen des Status Quo bereit sein.
So viel Zustimmung die Vorschläge in anderen Politikfeldern finden – aus dem Gesundheitswesen ist nur wenig Resonanz zu vernehmen. Dabei ist dieser Sektor ein Paradebeispiel für die Überforderung des Status quo: Die Fragmentierung der Versorgung, die Vielzahl nicht kooperierender Akteure, der starre Leistungsrahmen – erschweren eine integrierte Versorgung. Warum hält sich das deutsche Gesundheitswesen aus dieser so notwendigen Erneuerungsdebatte heraus, agiert teils gegensätzlich mit noch mehr Regelungen? Welche Chancen böte eine Beteiligung an der Debatte – gerade im Sinne einer vernetzten, sektorübergreifenden Versorgung?
Integrierte Versorgung: Reallabor für Staatsmodernisierung
Wer von Staatsmodernisierung spricht, kann das Gesundheitswesen nicht aussparen. Nicht nur sind die öffentlichen Gesundheitsausgaben fast so hoch wie der gesamte Bundeshaushalt, vielmehr zeigt es beispielhaft, wie ein veränderungsresistenter Steuerungsapparat Lebensrealitäten verfehlt. Die sektorale Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, die Silologik von Kostenträgern, Leistungsregimen und Verantwortlichkeiten, das Nebeneinander zahlloser Akteure, sowie Spardruck ohne Strategie: All das lässt sich als Blaupause dafür lesen, wie sehr das System an Überkomplexität leidet – und wie wenig es auf kohärente Steuerung, Outcome-Orientierung oder patientenzentrierte Versorgung ausgerichtet ist.
Integrierte Versorgung wäre mehr als eine Versorgungsform – sie könnte ein Möglichkeitsraum sein für die Erneuerung staatlicher Steuerung.
Integrierte Versorgung wäre mehr als nur eine Versorgungsform – sie könnte ein Möglichkeitsraum sein, in dem sich zeigen lässt, wie Koordination im föderalen Staat neu gedacht werden kann. Sie ist ein „Reallabor“ für die Erneuerung staatlicher Steuerung. Eine ausgestreckte Hand der Akteure des Gesundheitswesens und deren Bereitschaft zur Staatsreform verbunden mit der Abkehr aller politischen Ebenen – Bund, Land und EU – von kleinteiliger Überregulierung hin zu einer neuen Vertrauenskultur. Doch bislang bleibt sie oft Stückwerk: Einzelprojekte, regionale Inseln, Modellklauseln – gute Ideen, die nicht in die Regelversorgung übertragen werden. Es fehlt eine systemische Rahmung und strategische Entscheidung zugunsten integrierter Versorgungslogiken als Leitprinzip für eine neue Gesundheitspolitik. In Dänemark oder den Niederlanden wurde dieser Schritt bereits gegangen. Deutschland hingegen verharrt im Klein-Klein der strukturorientierten Reformkompromisse, die eigentlichen Blockaden bleiben unangetastet. Konkret: Eine Krankenhausreform ist sicherlich sinnvoll, kann das System aber nur in Maßen verbessern, wenn sie an der Klinikpforte endet.
Dabei wären viele von der Initiative skizzierten Prinzipien direkt übertragbar: Etwa die Orientierung an Wirkungszielen statt an Verfahrensregeln; die Nutzung digitaler Infrastruktur als Grundlage für sektorübergreifende Steuerung; oder die Förderung lokaler Gestaltungsspielräume durch verbindliche, aber flexible Rahmenvorgaben. Auch ein strategisch ausgerichtetes Monitoring – statt der rein formalen Qualitätsprüfung – könnte die Versorgung nachhaltig verbessern. Was in anderen Bereichen als ambitionierte Verwaltungsinnovation diskutiert wird, liegt im Gesundheitswesen schon auf dem Tisch – es fehlt lediglich am politischen Willen, der institutionellen Energie und dem Mut der Betroffenen zur Umsetzung.
Statt gestaltungsorientierter Stimmerhebung des Gesundheitswesens wird der Wandel als externer Druck erlebt: Digitalisierung, Fachkräftemangel, demografischer Wandel – all das zwingt zur Veränderung, ohne dass der Sektor selbst eine konkrete Vorstellung davon entwickelt hätte, wie er Teil der Staatsmodernisierung werden will. Dabei böte das Zusammenspiel aus Bundes- und Länderzuständigkeiten, öffentlicher Daseinsvorsorge und Marktwirtschaft, technischer Komplexität und ethischer Verantwortung einen idealen Ausgangspunkt für Reflektionen zu einem modernen Staatswesen, in dem Akteure des Gesundheitswesens Treiber statt Getriebene des Wandels werden. Wie kann es selbst Modernisierung einfordern, statt auf Initiativen aus der Politik zu warten oder sich hinter der Reformscheu der politischen Entscheidungsträger zu verstecken?
Vom Versorgungsprozess zur Patient Journey: Ein neuer Kompass für Staat und System
In einem zukunftsfähigen Staat bedeutet soziale Daseinsvorsorge nicht nur die Bereitstellung einzelner Leistungen – sondern die Fähigkeit, das Leben der Menschen ganzheitlich zu begleiten. Gerade im Gesundheitswesen bedeutet das: Der Staat muss sich stärker an den realen Bedürfnissen der Bürger orientieren – nicht nur in Momenten der Krankheit, sondern in allen Lebensphasen.
Was bislang unter dem Begriff „Versorgung“ firmiert, ist oft nur ein Ausschnitt – jener Moment, in dem eine medizinische Leistung in Anspruch genommen wird, häufig, wenn es schon zu spät ist. Dabei beginnt Gesundheit nicht im Krankenhaus oder in der Arztpraxis, sondern viel früher: Mit Prävention, Gesundheitskompetenz, sozialer Teilhabe. Sie endet nicht mit der Entlassung, sondern erfordert Nachsorge, Begleitung, Wiedereingliederung. Der Begriff der „Patient Journey“ beschreibt genau diesen erweiterten Blick: Die Reise des Menschen durch die verschiedenen Phasen von Gesundheit, Krankheit und Versorgung. Ein modernisierter Staat, der seinen Bürgern zugewandt ist, muss diese Reise verstehen und gestalten wollen. Das bedeutet: Weg von verwirrenden und ineffizienten sektoralen Zuständigkeiten und Leistungsdefinitionen –Gesundheit als Lebensprozess denken. Integrierte Versorgung ist kein Selbstzweck, sondern das Instrument, um Fragmentierung zu überwinden und Kontinuität zu ermöglichen.
Damit die Bürger den Staat wieder als handlungsfähig wahrnehmen, muss das Vertrauen in dessen Institutionen – auch in das Gesundheitssystem – gestärkt werden. Menschen, müssen auf ein transparenteres System treffen und Orientierung bekommen. Die Patienten, aber vor allem die, die das Gesundheitssystem am Laufen halten, verdienen ein System, das nicht nur Kosten kontrolliert, sondern auch Wirkung entfalten kann. Die Gesundheitspolitik eines zukunftsfähigen Staates muss effizienter und empathischer werden. Sie braucht Steuerungslogiken, die an Outcomes und Lebensqualität anknüpfen – nicht an Aktenordner und Abrechnungsziffern.
Die Initiative gibt einen wichtigen Impuls: Sie fordert einen Paradigmenwechsel, der sich nicht im Reorganisieren bestehender Strukturen erschöpft, sondern die Frage stellt, wofür öffentliche Institutionen heutzutage eigentlich da sind. Im Gesundheitswesen liegt die Antwort auf der Hand: Für Menschen. Die Herausforderungen unseres Gesundheitssystems sind vielschichtig und werden eher mehr als weniger – Fachkräftemangel, demographischer Wandel und finanzielle Herausforderungen können nur durch ein Neudenken gelöst werden.
Wenn sich das Gesundheitswesen nicht als aktiver Teil der Staatsmodernisierung versteht – mutig, konstruktiv, vorausschauend –, droht es zum Reparaturbetrieb eines dysfunktionalen Systems zu werden und das Vertrauen der Bürger weiter nachzulassen. Wenn aber seine Akteure neu denken, kann es selbst zum Modellfall einer neuen Staatlichkeit werden. Und damit zur Antwort auf die Frage: Wie gelingt Staatsmodernisierung?




