
Die versprochenen großen Reformen unter Prof. Karl Lauterbach in der letzten Legislaturperiode sind ausgeblieben oder im Klein-Klein der politischen (Fehl-)Kommunikation steckengeblieben. Dafür war nicht allein das Scheitern der Ampelregierung verantwortlich. Karl Lauterbach trat zwar an, um das Gesundheitswesen zu modernisieren, und hatte – zumindest in der Theorie – eine Reihe der Probleme klar vor Augen, startete dann aber zu spät, kommunizierte immer wieder unglücklich und blieb damit letztlich den versprochenen Reformen-Durchbruch schuldig. Nun ist es an Union und SPD, diese Herausforderungen anzugehen.
Auf neun Seiten befasst sich der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung mit Gesundheit und Pflege. Im Detail enthält der Text durchaus vielversprechende Ansätze, wie das Vorantreiben der Digitalisierung, den geplanten Bürokratieabbau, der – wichtig! – auf Vertrauenskultur und Eigenständigkeit statt auf Kontrolle setzt, und (mal wieder) die schnelle Umsetzung einer Notfallreform. Allerdings lässt der Koalitionsvertag nach wie vor die zentrale Frage außer Acht: Wie sichern wir künftig eine gerechte, bezahlbare und qualitativ hochwertige Versorgung in einem System, das strukturell aus der Zeit gefallen ist?
Denn vor dem Hintergrund steigender Kosten und Beiträge ist akutes Handeln gefragt. Medizinischer Fortschritt und demografische Entwicklung lassen nicht erwarten, dass der Versorgungsaufwand sinkt – im Gegenteil. Das System muss effizienter werden, um den steigenden Behandlungsbedarf bezahlbar zu halten. Und die Lösungsansätze liegen schon lange auf dem Tisch: Eine vernetzte, intersektorale, interdisziplinäre und interprofessionelle Gesundheitsversorgung. Was fehlt, ist der Mut, die grundliegenden systemischen Probleme anzugehen – und große Reformen konsequent umzusetzen.
Paradigmenwechsel statt Flickenteppich
Wenn wir Versorgung und Finanzierung langfristig sichern wollen, braucht es ein grundlegend neues Denken: Das deutsche Gesundheitswesen ist ein historisch gewachsenes Konglomerat aus Leistungssektoren, Zuständigkeiten und Kammerstrukturen, das ineffizient und aus der Zeit gefallen ist. Auf neue Herausforderungen wurde jahrzehntelang mit Einzelmaßnahmen reagiert, wodurch ein starrer und unübersichtlicher Flickenteppich entstand. Es wurde an so vielen Stellen nachgebessert, dass sich manche Paragrafen kaum noch lesen, geschweige denn kohärent anwenden lassen.
Der Koalitionsvertrag geht dieses Problem nicht an, sondern setzt mit seinen vergleichsweise doch eher kleinen Änderungen lediglich einige neue Flicken auf das bestehende System. Die Konsequenzen tragen Patientinnen und Patienten wie auch Leistungserbringer: Denn der Zugang zu Leistungen erfolgt nach wie vor nicht entlang der Versorgungskette, sondern entlang der Zuständigkeitslogik – mit Brüchen, Doppelungen und unnötiger Reibung.
Es braucht Mut zu einer wirklich systemischen Neuordnung, die sich am besten mit dem knappen Bild ‚horizontal statt vertikal‘ beschreiben lässt.
Wenn Versorgung jedoch künftig bezahlbar bleiben soll, braucht es mehr als Flicken und halbgare Reformen. Es braucht Mut zu einer wirklich systemischen Neuordnung, die sich am besten mit dem knappen Bild „horizontal statt vertikal“ beschreiben lässt. Also Versorgung orientiert an Behandlungspfaden statt Zuständigkeiten, patientenorientiert statt sektoral organisiert, ziel- und ergebnisorientiert statt budgetzentriert und kameralistisch.
Was ein echter Paradigmenwechsel bedeuten würde
Ein echter Paradigmenwechsel bedeutet damit, sich von der Frage zu lösen, wer eine Leistung erbringt, und stattdessen zu fragen, was Menschen in einer bestimmten gesundheitlichen Lage wirklich brauchen. Versorgung würde dann nicht mehr nach Berufsgruppen oder Sektorenzugehörigkeit organisiert, sondern entlang klar definierter Behandlungsziele – von der Prävention bis zur Nachsorge, integriert, digital gestützt und qualitätsgesichert.
Solche Modelle existieren bereits als Pilotprojekte – sie scheitern jedoch regelmäßig an einem veralteten Regelwerk. Wenn die Politik es ernst meint mit sektorenübergreifender Versorgung, dann muss sie die strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen – verbindlich, flächendeckend, nicht mehr selektiv und optional.
Schlegel-Gutachten: Fundiert, durchdacht – und ignoriert
Wie eine solche Reform aussehen könnte, zeigt das umfassende Gutachten von Prof. Dr. Thomas Schlegel zur Regelungssystematik des SGB V, erstellt im Auftrag der DGIV. Der Auftrag war klar: Sektorentrennende Regelungen im SGB V identifizieren und Wege zu sektorenübergreifenden Lösungen aufzeigen. Das Ergebnis ist eine systematische, tiefgreifende Analyse – und ein klarer Handlungsauftrag an Politik und Selbstverwaltung.
Schlegel zeigt, dass fast alle Abschnitte des SGB V ausschließlich sektorspezifische Regelungen enthalten – mit getrennten Zugängen, getrennten Vergütungsmodellen und getrennten Steuerungsebenen. Eine interprofessionelle, sektorenübergreifendeVersorgung ist damit strukturell nicht vorgesehen. Ausnahmen bilden lediglich Abschnitt 8 („sonstige Leistungserbringer“) und Abschnitt 11 (§ 140a – Besondere Versorgung). Diese Passagen denken erstmals vom Versorgungsziel her und bieten einen Ansatz für modulare Versorgungssysteme. Aber: Sie sind optional. Krankenkassen dürfen solche Strukturen etablieren – müssen es aber nicht.
Damit bleibt die intersektorale Versorgung ein regionaler Zufall. Innovation ist möglich, aber nicht systematisch vorgesehen. Genau hier setzt Schlegels Vorschlag an: Die Regelungen der Abschnitte 8 und 11 sollen in ein neues, konsolidiertes Kapitel überführt werden – als verbindliche Grundlage für sektorenübergreifende, indikationsbezogene Versorgungssysteme.
Vom Verwaltungs- zum Versorgungssystem
Was Schlegel vorschlägt, ist kein radikaler Umbruch. Das Gutachten regt an, Versorgung künftig nicht mehr vom Leistungserbringer (und seiner Vergütung), sondern vom Versorgungsziel her zu organisieren. Statt sektorale Einzelzulassungen: modulare Versorgungssysteme, die Ausschreibungen folgen, Ergebnisqualität nachweisen und regionale Versorgung sicherstellen. Solche Systeme könnten digitale Tools, ärztliche, pflegerische und therapeutische Leistungen integrieren – unabhängig von Kammergrenzen. Sie wären skalierbar, innovationsfähig, wirtschaftlich. Und: Sie würden Patientinnen und Patienten sowie deren Behandlungsverlauf in den Mittelpunkt stellen.
Ein solches Modell ist keine Utopie. Es ist durch die SGB-V-Logik des § 140a bereits in Ansätzen angelegt – nur eben nicht verpflichtend. Das Schlegel- Gutachten macht genau daraus eine strukturpolitische Empfehlung: aus der Ausnahme eine Regel zu machen.
Das Gutachten findet sich im AG-Papier nicht wieder
Umso erstaunlicher ist, dass der Koalitionsvertrag in seinem Kapitel zu Gesundheit und Pflege, grundlegende systemische Änderungen gar nicht in Erwägung zieht, obwohl im Kapiteleingang von „tiefgreifenden strukturellen Reformen“ gesprochen wird. Weder konzeptionell noch inhaltlich finden sich jedoch echte Reformansätze im skizzierten Sinne wieder. Zwar wird viel von sektorenübergreifender Versorgung, Hybrid-DRGs oder einem verbindlichen Primärarztsystem gesprochen – doch es fehlt der strukturelle Unterbau.
Statt die systemischen Ursachen der Versorgungsfragmentierung zu adressieren, bleibt der Koalitionsvertrag damit im bekannten Sprachbild: Versorgungssteuerung über KVen, punktuelle Entbudgetierung, mehr Flexibilität in der Bedarfsplanung. Damit wird ein Reformanspruch suggeriert, ohne die strukturellen Leitplanken tatsächlich zu verändern.
Einmal mehr zeigt sich auch hier: Die entscheidenden Vorschläge für eine zukunftsfeste, ergebnisorientierte Versorgung sind politisch bekannt – aber sie werden bewusst nicht aufgenommen.
Die Reform liegt vor – sie muss nur gewollt werden
Der Gesundheitssektor steht vor einem epochalen Wandel. Fachkräftemangel, steigende Morbidität, demografischer Druck und wachsende Kosten machen deutlich: Weiter so geht nicht mehr. Was es braucht, ist keine Reform an Symptomen – sondern ein neuer Ordnungsrahmen für Versorgung.
Das Schlegel-Gutachten zeigt, wie dieser Rahmen aussehen kann. Dass solche grundsätzlichen Überlegungen im Koalitionsvertrag keine Rolle spielen, ist sinnbildlich für die politische Angst vor echten Reformen in unserem Gesundheitssystem. Doch ohne Strukturreform wird keine der jetzt skizzierten kosmetischen Maßnahmen substanzielle Wirkung entfalten können.
Der Paradigmenwechsel ist überfällig. Die Instrumente sind da. Es fehlt offensichtlich der Wille, sie zu nutzen.






