
Frauen reagieren anders auf Krankheiten, Medikamente und Therapien als Männer. Dennoch steht nach wie vor das männliche Geschlecht im Zentrum der medizinischen Forschung, denn es sind hauptsächlich Symptome und Beschwerden, die bei Männern auftreten, die in die Lehrbücher eingehen. Dass es mittlerweile als unbestritten gilt, dass Frauen und Männer bei derselben Erkrankung unterschiedliche Symptome zeigen können, ist Verdienst der Gendermedizin. Sie wurde bereits in den 1990er Jahren entwickelt und ist Teil der personalisierten Medizin.
Da der Begriff Gender sehr stark sozial konnotiert ist und eine Person in Abgrenzung zu ihrem rein biologischen Geschlecht beschreibt, scheint der Begriff vielen eher ungünstig gewählt. Denn Gendermedizin beschäftigt sich mit dem Einflussfaktor Geschlecht auf Erkrankungen und medizinische Behandlung, Forschung und Prävention. Die wissenschaftlich korrektere Bezeichnung lautet daher „Geschlechtsspezifische Medizin“.
Pionierin der Gendermedizin
Die Fachärztin für Kardiologie, Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek, zählt zu den ersten Wissenschaftlern, die sich hierzulande diesem Forschungsansatz der molekularen und klinischen Aspekte von Geschlechterunterschieden widmen. Die Idee zu diesem Forschungsgebiet kam ihr bereits als Kardiologin im Herzzentrum in München. Damals fiel ihr auf, dass viel weniger Frauen als Männer in Behandlung waren – obwohl Frauen häufiger an Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen sterben als Männer.
Ein Schlüsselerlebnis war für sie der Tod einer jungen Frau, die in einem sehr schlechten Zustand mit einem Kreislaufschock eingeliefert wurde. „Wir wussten nicht, was mit ihr los war, und auch generell wenig über Herzkreislauf-Erkrankungen bei Frauen. Ihr Krankheitsbild passte nicht in die üblichen Männer-basierten Schemata. Möglicherweise hatte sie einen Herzinfarkt gehabt, sicher waren wir nicht. Und die Bemerkung des Oberarztes dazu – „Das ist eine Frau, das verstehen wir nicht“ – ist mir bis heute in Erinnerung geblieben, das hat mich schockiert“, erinnert sich Regitz-Zagrosek.
Das ist eine Frau, das verstehen wir nicht.
Zunächst gründete sie 2004 eine Arbeitsgruppe, die sich mit Herzkreislauf-Erkrankungen bei Frauen beschäftigte. „Wir machten eine Untersuchung zu Verläufen nach Operationen an Herzkranzgefäßen und stellten fest: Junge Frauen starben deutlich häufiger als altersgleiche Männer.“ Warum das so ist? Untersuchungen ergaben, dass Frauen zum Teil kleinere und stärker gewundene Herzkranzgefäße haben als Männer.
Der Unterschied zeigt sich auch bei den Symptomen. Bei Männern können ein plötzlicher Schmerz in der Brust, der in den Arm zieht, Atemnot oder Engegefühl in der Brust Hinweise auf einen Herzinfarkt sein, der sofort behandelt werden sollte. Bei Frauen hingegen können sie ganz anders aussehen. Übelkeit, Kurzatmigkeit sowie Schmerzen im Oberbauch können hier auf einen Herzinfarkt hinweisen.
Solche Unterschiede gibt es auch bei anderen Krankheiten. Frauen haben etwa ein dreifach höheres Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken. Diese Unterschiede werden zum einen geprägt von den Genen – vor allem von den Geschlechtschromosomen – und zum anderen von den Sexualhormonen. Auch die Wirksamkeit wichtiger Herz-Kreislaufmedikamente unterscheidet sich von der bei Männern.
Vorurteile männlicher Kollegen
Als Regitz-Sagrosek das erste Institut für Gendermedizin (GiM) gründete und die Geschlechterforschung in der Pflichtlehre der medizinischen Fakultät der Charité etablierte, musste sie zunächst mit erheblichen Widerständen und Vorurteilen vor allem ihrer männlichen Kollegen kämpfen. „Ein Glücksfall war, dass es zu dieser Zeit an den Berliner Universitäten Umstrukturierungen gab und damit Platz für Neues. Und dass es mit Prof. Roland Hetzer, damals Leiter des deutschen Herzzentrums Berlin, einen Mentor gab, der mich hier tatsächlich unterstützt hat“, so Regitz-Zagrosek. Damit war er als Mann nicht nur damals eine große Ausnahme. „Nach wie vor beschäftigen sich mit dem Thema eher Frauen, wir haben nur fünf bis zehn Prozent Männer in der Gendermedizin.“
Eine Mitstreiterin ist die Internistin, Wissenschaftlerin und Organisationsberaterin Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, die im April 2021 den Ruf auf die neu geschaffene Professur für geschlechtersensible Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld annahm. „Nicht nur bei dem Paradebeispiel Herzinfarkt, sondern auch bei anderen Erkrankungen gibt es Unterschiede in der Symptomatik“, sagt Oertelt-Prigone.
So werde zum Beispiel Asthma bei Mädchen oft später diagnostiziert als bei Jungen. Gleiches gilt für Parkinson oder das Harnblasenkarzinom. Ein Grund dafür ist, „dass man bereits im Medizinstudium gewisse Rollenbilder mitnimmt – von Krankheiten und von den Menschen, die sie haben“, begründet die Expertin.
Durch Fernsehen und Social Media rückt die Gendermedizin seit einiger Zeit stärker in den Fokus.
Eine Autoimmunerkrankung werde etwa in den Lehrbüchern fast immer mit einer Frau in Verbindung gebracht, ein Herzinfarkt mit einem Mann. Osteoporose hat eine Frau nach der Menopause – „dabei ist davon auch ungefähr jeder dritte Mann über 70 betroffen“, führt Oertelt-Prigione weiter aus. Daher gelte es, das Wissen um jene Unterschiede bereits im Medizinstudium zu verankern. Immerhin, durch Fernsehen und Social Media rückt das Thema seit einiger Zeit stärker in den Fokus. Es ist aber noch längst keine Selbstverständlichkeit. Was das Bewusstsein in Kliniken und Praxen angeht, sei das noch immer ein Flickenteppich.
Erstes Gender-Herz-Zentrum
Eine der Kliniken, die sich hierzulande explizit der geschlechtsspezifischen Diagnose, Behandlung und Therapie verschrieben haben, ist das Remscheider Sana-Klinikum. Hier hat Prof. Dr. Burkhard Sievers, Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Angiologie und Chefarzt der Medizinischen Klinik I Mitte 2023 das deutschlandweit erste Gender-Herz-Zentrum gegründet.
Sievers ist einer der wenigen, die sich aktiv dafür einsetzen, dass Frauen und Männer in Diagnostik und Therapie differenzierter betrachtet werden. Sein Ziel ist es, nicht nur medizinisches Fachpersonal für gendermedizinische Anforderungen in der Medizin zu sensibilisieren, sondern auch die allgemeine Bevölkerung.
Männer sind mit nur 49 Prozent in Deutschland in der Minderheit.
Deshalb wendet er sich mit seinem Talkformat „Sievers Sprechrunde“ auf Youtube gezielt auch an Laien. Ganze 51 Prozent der Bevölkerung werden in der medizinischen Ausbildung, in der Forschung und im Klinikalltag vernachlässigt, Männer sind mit nur 49 Prozent in Deutschland in der Minderheit. Damit würde die größere Bevölkerungsgruppe benachteiligt, sagt Burkhard Sievers. Genau deswegen habe er es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Thema in die Breite zu streuen.
Sein Gender-Herzzentrum in Remscheid bietet sämtlichen Personen, die oft schon sehr lange mit unklaren Symptomen zu kämpfen haben und keine richtige Hilfe erfahren, eine Anlaufstelle. Und das aus der gesamten Republik. Auch Sievers beklagt, dass die Geschlechtssensible Medizin bis heute an den meisten Universitäten nicht gelehrt wird.
Das könnte sich allerdings bald ändern. Denn laut Sabine Oertelt-Prigione wird die neue deutsche Approbationsordnung derzeit um gendermedizinische Inhalte ergänzt. Gleiches gelte für den nationalen Lernzielkatalog für Medizinstudierende. „In Zukunft werden medizinische Fakultäten angehalten sein, ihre Studierenden darauf vorzubereiten. Damit wird die Verbreitung des Bewusstseins der geschlechtssensiblen Medizin nicht mehr von einzelnen engagierten Personen abhängen, sondern als eine systemische Weiche verankert, die das gesamte System unter Druck setzt.“
Vielleicht sogar die Pharmaindustrie, die nach wie vor für fast alle Medikamente in den Beipackzetteln keine unterschiedlichen Dosierungen zwischen Frauen und Männern vorgibt – obwohl Frauen sehr oft eine niedrigere Dosis benötigen. „Das ist nicht so wie bei Unisex-Unterwäsche, das geht in der Medizin nicht“, unterstreicht Burkhard Sievers: „Es ist eben nicht der kleine Unterschied, sondern der große Unterschied zwischen Männern und Frauen.“






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