
Wie die medizinische Versorgung in Kriegszeiten gelingen kann, thematisierte der diesjährige Hauptstadtkongress. Eines wurde dabei deutlich: Das deutsche Gesundheitswesen muss sich auf einige Herausforderungen einstellen, wenn es auf Bedrohungen wie kriegerische Auseinandersetzungen auch hierzulande vorbereitet sein will. Zudem ist ein Bündnisfall der NATO immer wahrscheinlicher geworden. Gerade in der Ukraine nimmt das Ausmaß an Schwerstverwundeten zu, die zum Teil auch auf Nachbarstaaten zur Behandlung verteilt werden. Denn: Operationen unter Kriegsbedingungen sind schwierig, die Kriegsverletzungen – gerade in der Ukraine – sind verheerend und erfordern viel Wissen und Können, insbesondere in der rekonstruktiven Chirurgie.
Kleeblatt-Konzept greift auch im Ukraine-Krieg
Der Ukraine-Krieg findet unweit der deutschen Haustür statt und macht sich auch hier bemerkbar. Bund und Länder haben daher beschlossen, weitere Gelder für die Verwundetenversorgung zur Verfügung zu stellen und die während der Corona-Pandemie etablierten Kleeblatt-Strukturen auch für ukrainische Kriegsverletzte anzuwenden. Und obwohl man sich bereits im Koalitionsvertrag darauf verständigt hatte, die Strukturen für große Krisen besser zu rüsten, um für einen Katastrophenfall oder sogar einen militärischen Bündnisfall vorbereitet zu sein, sieht die Realität vor Ort anders aus. Übungen zeigen, dass Kliniken bei MANV-Szenarien (Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten) – selbst im kleineren Setting – noch Nachholbedarf haben. Es ist daher für deutsche Krankenhäuser unerlässlich, sich auf einen Ernst- bzw. Bündnisfall vorzubereiten.
1000 Verletzte pro Tag müsste Deutschland im NATO-Bündnisfall versorgen können.
Und dieser scheint gar nicht so unwahrscheinlich. Der Ukraine-Krieg stellt eine neue Herausforderung an die solidarische Hilfsgemeinschaft dar. Sollten die NATO-Mitglieder beispielsweise eingreifen, wird Deutschland schnell zur Drehscheibe. In einem theoretischen Szenario müsste Deutschland dann 1000 Verletzte pro Tag versorgen können. Deshalb spielen effiziente Versorgungsstrukturen auch hierzulande eine immer größer werdende Rolle. Eine umfassende Strategie für derlei Fälle ist eine herausfordernde Aufgabe, die Abstimmungen zwischen Bund und Ländern, aber auch zwischen verschiedenen Ressorts wie Gesundheit, Verteidigung und Inneres erforderlich macht.
Das Kleeblatt-Konzept müsste dafür weiter ertüchtigt und auch verstetigt werden. „Das System zur Versorgung im Bündnisfall sollte weiter ausgestaltet werden. Um sich für das Szenario zu wappnen, sind starke und etablierte Kooperationen nötig. Es braucht dafür auch ein belastbares Netzwerk für die Zusammenarbeit zwischen den Kliniken. Und nicht zuletzt benötigt es umfassende Transparenz durch Digitalisierung“, so Prof. Jens Scholz, 1. Vorsitzender des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Ein Stück weit spiele hier die Krankenhausreform und der Plan, in Zukunft gemeinsam in koordinierten Netzwerken besser zusammenzuarbeiten, auch der Krisenvorbereitung in die Hände.
Derzeitige Realität in Deutschland ist jedoch, dass „die Krankenhausstrukturen bereits für den Normalbetrieb ineffizient aufgestellt sind“, erklärt Scholz. Für die Aufgaben hierzulande sollte daher auch von den Erfahrungen aus der ukrainischen und israelischen medizinischen Versorgung in Kriegszeiten gelernt werden. Ein Blick auf die Geschehnisse vor Ort in beiden Kriegsgebieten kann helfen.
Kleeblatt-Konzept vor neuer Herausforderung
Das aus Corona-Zeiten bewährte innerdeutsche Verlegungskonzept wurde bereits erweitert, um Verletzte und Erkrankte aus der Ukraine nach Deutschland zur medizinischen Weiterversorgung zu transportieren. Für die Abstimmung der überregionalen Verlegungen innerhalb des Kleeblatts gibt es einen Koordinator. Zudem wurde bereits ein sechstes Kleeblatt geschaffen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe übernimmt dabei die Aufgabe, internationale oder bilaterale Hilfeleistungsersuchen und damit zusammenhängende Behandlungs- und Transportbedarfe von Patienten aus dem Ukraine-Krieg in die Kleeblattstruktur einzubringen. Die bisherigen Strukturen im Hinblick auf die operative und strategische Kleeblattsteuerung konnten dabei bestehen bleiben. Steht ein Kleeblatt absehbar vor der Überlastung seiner Kapazitäten, kann es dies melden und darum bitten, Patienten in Bundesländer eines anderen Kleeblatts transportieren zu dürfen.
Ukraine: Einsatz modernster Waffen
Die Ukraine wird mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern von Russland bombardiert und hat weder Luft- noch klare Landhoheit. Dr. Hnat Herych, Chefarzt am Multidisciplinary Clinical Hospital of Emergency and Intensive Care in Lwiw, gab bei seiner Stippvisite auf dem Hauptstadtkongress zu bedenken, dass Russland in der Lage ist, „Raketen sogar vom russischen Territorium aus bis nach Berlin abzufeuern“. Ein Szenario, das also nicht nur theoretisch besteht und das deutsche Gesundheitssystem aufwecken sollte, sich nicht nur auf den Bündnisfall, sondern auch eigene kriegerische Auseinandersetzungen vorzubereiten.
135 Verwundete mussten gleichzeitig notoperiert werden.
Herych erinnert sich an Tage, wo das Personal der Klinik in Lwiw, die nahe an einem Militärstützpunkt liegt, aufgrund der Bombenangriffe zeitgleich 135 Verwundete behandeln musste. „Alle von ihnen mussten notoperiert werden“, führt der erfahrene Mediziner aus. Die enorme logistische Herausforderung besteht darin, die Ressourcen dafür zu verwalten und eine solche Anzahl von Patienten zur gleichen Zeit zu behandeln. Das Besondere am Ukraine-Krieg ist, dass beide Seiten sehr moderne Waffen nutzen, die schwere Schäden am menschlichen Körper verursachen. „Was diese Raketen, Minen und anderen Waffen anrichten, ist enorm.
Wir haben es mit riesigen und sehr schweren Verletzungen zu tun. In sehr schwierigen Operationen versuchen wir Körperteile zu rekonstruieren und Leben zu retten“, erklärt Herych von seinen Erfahrungen an der ukrainischen Front. Es seien zudem sehr viele Zivilisten betroffen, nicht nur Soldaten. Man baue gerade in Windeseile den Bereich der rekonstruktiven Chirurgie auf und entwickle diesen weiter, um den Überlebenden eine Perspektive zu geben. Mittlerweile habe das Krankenhaus auch eine eigene Prothetikwerkstatt. Leider mache Russland bei seinen Angriffen auch keinen Halt vor Krankenhäusern und medizinischem Personal, es greife auch bewusst Krankentransporte an. „Wenn wir auf dem Dach das Rote Kreuz anbringen, um zu zeigen, dass wir ein Krankenhaus sind, birgt das die Gefahr, dass wir nur deshalb direkt attackiert werden“, erklärt Herych die Missachtung der internationalen Schutzzeichen. Um überhaupt einigermaßen geregelt operieren zu können, hat das Krankenhaus mit knapp 2000 Betten im vergangenen Jahr einen riesigen Bunker gebaut. Hier finden nicht nur Operationen statt.
Fehlendes Blut und kaum Evakuierungsmöglichkeiten
Er ist sehr froh, auch auf internationale Unterstützung bei der Versorgung der Verletzten zählen zu können. Herych berichtet, dass gerade zu Kriegsbeginn das Blut knapp war, weil man in der Ukraine – im Gegensatz zu Israel – kein kaltes Blut verwenden durfte, sondern nur Blut-Einzelbestandteile. Vollblut sei aber – gerade bei großen, schweren Verletzungen, wie sie in der Ukraine an der Tagesordnung sind – der „Goldstandard“. Diese Vorgabe wurde zwar bereits nach kurzer Zeit aufgehoben, dennoch ist Blut hier Mangelware. Am größten Klinikum in der Westukraine wurde daher ein eigenes Blutspendezentrum eingerichtet, in dem die Zivilbevölkerung und auch das Militär Blut spenden können.
Wir mussten uns einen neuen Weg einfallen lassen, um die Verletzten von der Front in die Krankenhäuser zu bringen: Evakuierungszüge.
Im Gegensatz zu den Kollegen aus Israel können Herych und seine Kollegen keine Standardprotokolle beispielsweise für den Transport vom Schlachtfeld verwenden. „Da die russische Armee bewusst Krankenwagen und Flugzeuge, mit denen Patienten evakuiert werden sollen, zerstört, mussten wir uns einen neuen Weg einfallen lassen, um die Verletzten von der Front in die Krankenhäuser zu bringen: Evakuierungszüge“, erklärt er. Das Problem dabei: Es kann drei oder vier Tage dauern, bis die Verletzten von der Front im Krankenhaus ankommen. Das bringe gleich das nächste Problem mit: infizierte Wunden. Zudem gebe es viele Patienten, die gegen die meisten verwendeten Antibiotika resistent seien. Herych appellierte daher an alle Krankenhausleitungen, Krankenhausinfektionen einzudämmen, damit die Antibiotikaresistenzen nicht noch weiter ansteigen.
Es sind fürchterliche Bilder ukrainischer Verletzter, die er mitbringt. Sie bewegen die Besucher des Hauptstadtkongresses. Vielen wird klar: Es liegen nicht einmal 800 Kilometer Luftlinie zwischen Lwiw und Berlin. Und es werden immer mehr ukrainische Patienten, die nach Deutschland zur Behandlung kommen und eine Fachexpertise in der Unfallchirurgie, der Traumatologie, aber auch der Pädiatrie brauchen. Auch um die Versorgung dieser Patienten in den jeweiligen deutschen (Krankenhaus-)Strukturen müssen wir uns Gedanken machen.
Israel: Plötzlich ist Krieg
Die Entfernung zwischen Berlin und Tel Aviv ist größer. Dennoch gibt es auch hier enge Verbindungen, zum Beispiel zum Tel Aviv Sourasky Medical Center, das mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, der Charité und anderen deutschen Unikliniken eng zusammenarbeitet.
Leben auf dem Schlachtfeld zu retten ist anders als im Operationssaal im Krankenhaus, wo das Umfeld optimal ist, und die Pflegekräfte wissen, was wir brauchen.
Plötzlich tobt der Krieg vor der eigenen Haustür. Für Dr. Yitzhak Brzezinski Sinai, Anästhesist und Intensivmediziner, wurde das am 7. Oktober 2023 Wirklichkeit. Denn er ist nicht nur Arzt am Tel Aviv Sourasky Medical Center, sondern auch freiwilliges Reservemitglied der israelischen Verteidigungskräfte – als Major im Sanitätskorps. „Am 7. Oktober hat sich alles geändert, aber ein Ziel in meinem Leben ist geblieben: die Mission, Leben zu retten. Dennoch haben sich die Umstände erheblich verändert. Denn Leben auf dem Schlachtfeld zu retten ist anders als im Operationssaal im Krankenhaus, wo das Umfeld optimal ist, und die Pflegekräfte wissen, was wir brauchen“, erklärte Brzezinski vor Hunderten von Zuhörern auf dem Hauptstadtkongress. Hinzu komme die enorme mentale Belastung: „Es ist etwas anderes, jemanden zu behandeln, wenn Ihr eigenes Leben bedroht ist.“ Die Grundvoraussetzung für die schnelle und gute Versorgung der Verwundeten – insbesondere in den ersten Stunden – liegt im ausgeklügelten Rettungssystem der Israelis.
Das hat jedoch auch einen Nachteil, weiß Prof. Ronni Gamzu gegenüber der kma zu berichten. Der Leiter des zweitgrößten Krankenhauses im Land, dem Tel Aviv Sourasky Medical Center, zeigt die logistischen Herausforderungen auf: „Stellen Sie sich vor, Sie bekommen an einem Tag mal eben gesagt, dass 50 Prozent Ihres medizinischen und pflegerischen Personals abgezogen und in den Dienst der Armee gestellt wird. Stellen Sie sich vor, was das für Auswirkungen auf unsere elektiven Eingriffe und Notfalloperationen hat.“ Um das einigermaßen aufzufangen, müsse die Bereitschaft bei den Verbliebenen da sein, die Teamkollegen zu vertreten, die auf dem Schlachtfeld sind. Das ginge über Wochen und einzelne Monate, aber nicht dauerhaft. Hier brauche es tragfähige, langfristige Lösungen, mahnt Gamzu an. Etwas, was auch in Deutschland noch der ein oder anderen Überlegung bedarf. „Von Vorteil in Israel ist, dass das Land die Hoheit über den Luftraum hat“, weiß Gamzu zudem zu berichten. Denn das erlaube den Einsatz von Hubschraubern und ein schnelles Retten von Leben.
Rettungssystem in Israel
Jeder israelische Staatsbürger und jede israelische Staatsbürgerin im Alter zwischen 18 und 21 Jahren ist verpflichtet, in der Armee zu dienen. Dadurch hat das Land auch eine enorme medizinische Reserve, die im Worst Case schnell rekrutiert und auf das Schlachtfeld gebracht werden kann. Dies geht auch deshalb, weil in Israel der oberste Sanitäter im Kriegs- oder Katastrophenfall ganz vorne mit dabei ist und zivilen Einrichtungen Befehle erteilen darf.
Das Militär hatte in Israel die drei Wochen nach dem Terroranschlag am 7. Oktober 2023 so die Möglichkeit, hunderte von Ärzten und Sanitätern zu rekrutieren und Grundregeln für das Verhalten im Kriegsfall aufzustellen. So waren genügend Ärzte und Sanitäter vor Ort und konnten binnen zwei Minuten die Erstversorgung übernehmen.
Anders als in der Ukraine gibt es acht Krankenhäuser in der Nähe des Gazastreifens, sechs davon sind Traumazentren der Stufe 1 – alle innerhalb von 30 Minuten mit einem Hubschrauberflug von der Front aus zu erreichen. Das ist für den Verlauf der medizinischen Versorgung entscheidend. „Denn wenn man die Patienten innerhalb der ersten Stunde behandeln kann, kann man ihr Leben meist auch retten“, weiß Brzezinski aus eigener Erfahrung.
Gute Bedingungen sind entscheidend
Eine Hubschrauberverlegung ist jedoch nicht immer möglich. Während eines Luftangriffes zum Beispiel, kann der Hubschrauber nicht landen. „Dann müssen wir vor Ort handeln. Dafür haben wir die komplette Ausrüstung wie Sauerstoff oder Wärmematerial in den Fahrzeugen an Bord. Wir können ohne Probleme einen i.v.-Zugang legen oder Blutspenden verabreichen – alles während der Fahrt“, erklärt der eingezogene Major weiter. Er und sein Team haben in den vergangenen acht Monaten 28 MANV mit bis zu 30 verwundeten Soldaten gemanagt und behandelt. Insgesamt wurden mehr als 600 Verletzte in mehr als 320 Operationen gerettet. 180 Hubschrauberflüge haben geholfen, die Verwundeten abzutransportieren.
Deutschland sollte erwägen, die Zahl der Intensiv- und Rehabetten zu erhalten – und bei baulichen Veränderungen in Kliniken den Kriegsfall mitzudenken.
Dennoch ist sich Brzezinski bewusst, dass dies nicht selbstverständlich ist. „Wir konnten in die Schlacht ziehen und vor Ort helfen, Leben zu retten, ohne an die Folgen für das Klinikum zu denken.“ Das habe enormen Druck von ihnen genommen.
Brzezinski zeigte den deutschen Krankenhausleitungen auf dem Hauptstadtkongress zudem auf, wie wichtig eine reibungslose Kommunikation zwischen den Kliniken und dem Feld im Ernstfall ist. Zudem solle Deutschland erwägen, die Zahl der Intensiv- und Rehabetten zu erhalten – und bei baulichen Veränderungen in Kliniken den Kriegsfall mitzudenken.








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