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Neue GenerationEin „Superheldenanzug“ für MS-Betroffene

Ein Anzug für Patienten mit neurologischen Erkrankungen: Spastiken werden reduziert, Schmerzen gelindert und er sorgt für natürlichere Bewegungen. Der Exopulse Suit von Ottobock ist seit Anfang des Jahres verfügbar. 

Exopulse Mollii Suit von Ottobock
Ottobock
Louisa im Exopulse Suit von Ottobock.

Muskelkrämpfe, Bewegungsstörungen und chronische Schmerzen in Folge von spastischen Lähmungserscheinungen bestimmen den Alltag vieler Menschen mit neurologischen Krankheiten. Sie gehören zu den Symptomen einer Multiplen Sklerose (MS), treten aber auch bei anderen neurologischen Erkrankungen auf. Weltweit leben etwa 2,8 Millionen Menschen mit MS, allein in Deutschland wird sie jährlich bei mehr als 15 000 Menschen neu diagnostiziert.

Kerstin, die bei ihrem Vortrag auf den „Media Days 2025“ von Ottobock in Berlin entspannt in ihrem Rollstuhl sitzt, ist eine von ihnen. Obwohl sie seit knapp 27 Jahren MS-betroffenen ist, merkt man ihr die Spasmen nicht an. Als die 41-jährige Erzieherin davon erzählt, wird es allerdings still in den Räumlichkeiten des Orthopädietechnikherstellers. Denn ihr Bericht geht unter die Haut.

Morgens hatte ich Angst vor dem Tag und abends vor der Nacht – so war mein Leben.

„Meine Selbständigkeit war völlig dahin. Das Schlimmste waren tatsächlich diese Schmerzen, die vielen Medikamente, die ich nehmen musste, um einfach nur jede Stunde zu ertragen. Morgens hatte ich Angst vor dem Tag und abends vor der Nacht – so war mein Leben.“ Ihre Spasmen waren demnach so massiv, dass sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern konnte, ständig aus ihrem Rollstuhl gestürzt ist und für einfachste Dinge wie etwa Anziehen oder Duschen Hilfe benötigte. Selbst ihre Physiotherapie verlief nur noch palliativ.

Kontrollverlust über die Muskeln

Laut der American Association of Neurological Surgeons sind weltweit mehr als zwölf Millionen Menschen von Spasmen betroffen. Sie werden durch eine Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS) hervorgerufen, etwa des Gehirns oder Rückenmarks in Folge von Schlaganfällen, Schädelhirntraumata, CP, MS, Querschnittslähmungen oder Hirntumoren.

Die Spastik selbst ist eine Verhärtung und Steifheit von Muskeln. Sie beeinflusst die Fähigkeit, Gliedmaßen zu bewegen, denn aufgrund der Schädigung im ZNS kommt es zu einer Fehlregulation der Skelettmuskulatur. Die Muskeln werden in einen Zustand permanenter Erregung und Anspannung versetzt – sogenannte unwillkürliche Muskelkontraktionen – die die Betroffenen nicht mehr kontrollieren können.

Trainingsanzug mit eingenähten Elektroden

Wie das aussieht, ist bei der 27-jährigen Louisa zu sehen, bei der im Jahr 2008 MS diagnostiziert wurde. In einem Vergleichsvideo, das der Medizintechnikhersteller auf der Veranstaltung präsentiert, lässt sich beobachten, wie sie mühsam einzelne Treppenstufen erklimmt, versucht, auf abschüssigen Wegen das Gleichgewicht nicht zu verlieren oder nach einem Stift oder Wasserglas zur greifen. Ihre Spasmen machen ihre Bewegungen so ungelenk, dass das nur sehr langsam gelingt.

In einem zweiten Videoausschnitt führt sie dieselben Bewegungsmuster dagegen so locker aus, dass den Zuschauer die Vermutung beschleicht, sie habe die Spastik zuvor nur gespielt. Hier trägt sie allerdings eine Art Trainingsanzug, bestehend aus Jacke und Hose, bei dem im Hüftbereich ein weißer Elektronikkasten zu sehen ist. Von dieser Bedieneinheit führen Kabel zu insgesamt 58 in die Kleidungsstücke eingebetteten Elektroden, mit deren Hilfe gezielt Muskelgruppen am ganzen Körper stimulieren werden können. Auch Kerstin hat so einen Anzug an, während sie im Rollstuhl sitzt.

Der Exopulse Suit

Der Erfinder jenes weltweit ersten Neuromodulationsanzuges ist der schwedische Chiropraktiker Fredrik Lundqvist. Um Patienten ihre Spastizität und die damit verbundenen Schmerzen zu mindern, arbeitete er anfangs mit Einzelelektroden, die er in einem speziellen Muster auf den Körper seiner Patienten klebte. Da das eineinhalb Stunden dauerte, kam ihm die Idee, diese in Kleidungsstücken zu verbauen. Das Resultat ist der sogenannte „Exopulse Mollii Suit“, der von seinem Start-up Exoneural Network entwickelt worden ist.

Im Jahr 2021 hat Ottobock das Start-up übernommen und anlässlich der Media Days 2025 eine zweite, verbesserte Version jenes Anzuges mit dem Namen „Exopulse Suit“ präsentiert. Bei dem neuen Modell sorgen größere Elektroden für eine bessere Hautauflage, so können mehr Muskelpartien einzeln angesprochen werden. Auch die Steuereinheit ist in kleineren, leicht abnehmbaren Kästchen in Jacke und Hose verbaut, die sich per Bluetooth ansteuern und mit Hilfe einer App bedienen lassen. Das Wirkprinzip beider Versionen ist indes gleich.

Erregungszustand der betroffenen Muskeln abstellen

Dazu wird das Verfahren der transkutanen Elektrostimulation (TENS) verwendet. Dabei wird ein als Antagonisten-Hemmung bezeichnete, physiologischer Reflexmechanismus genutzt, der bereits 1906 entdeckt wurde. Die Grundlage dazu ist der Umstand, dass allen Körperbewegungen ein harmonisches Zusammenspiel von Muskeln zugrunde liegt. Die Befehle hierfür stammen aus dem ZNS und werden über Nervenbahnen auf die Skelettmuskeln übertragen.

Normalerweise geben die Nerven einem Muskel durch eine Erhöhung seiner elektrischen Spannung also das Signal, aktiv zu werden. „Die von Spastik betroffenen Patienten können diesen Mechanismus nicht mehr selbst kontrollieren, ihr Nervensystem ist nicht in der Lage, ein Signal zu geben, das den Erregungszustand der betroffenen Muskeln abstellt“, ergänzt Jan Salzmann, Marktmanager Neuromobility bei Ottobock Healtcare Deutschland.

Anzug lindert Schmerzen

Ein Muskel kann sich allerdings ausschließlich zusammenziehen, nicht aber von alleine wieder strecken. Dazu braucht der Muskel einen Gegenspieler, der sich seinerseits verkürzt, um den Muskel auf der anderen Seite wieder zu strecken. Die meisten Muskeln sind also paarweise angeordnet, mit einem Antagonisten zu jedem agonistischen Muskel – ist etwa der angespannte Bizeps der Agonist, spielt der Trizeps die Rolle des Antagonisten.

Mit Hilfe der Elektroden des Anzugs lassen sich jene Spannungen aber auch stimulieren, indem sie schwache elektrische Signale über die Nervenbahnen an das Rückenmark abgeben. „Anders als zahlreiche Neurostimulationstechniken, die sich ausschließlich auf die symptomatischen Muskeln konzentrieren, lindern der Anzug die Spastik und die damit verbundenen Schmerzen durch Stimulieren des geschwächten Antagonisten des spastischen Muskels.

Das Nervensystem sagt sich dann: Wenn der Trizeps arbeitet, dann darf der Bizeps jetzt nicht aktiv sein.

Seine Elektroden steuern dabei nicht den aktiven, angespannten Muskel an, sondern seinen jeweiligen Antagonisten. Ist etwa der Bizeps aktiv, wird ein Signal über die Neven an das zentrale Nervensystem abgegeben, dass dafür sorgt, dass es „glaubt“, der Trizeps sei angespannt. Das Nervensystem sagt sich dann: Wenn der Trizeps arbeitet, dann darf der Bizeps jetzt nicht aktiv sein. Damit entlastet es diesen Bizeps auf einmal und die Spastik lässt nach“, erläutert Jan Salzmann.

Blockade der Schmerzwahrnehmung

Der nicht-invasive und nicht-medikamentöse Ansatz des Anzugs lässt sich sogar bei der chronischen Schmerzerkrankung Fibromyalgie einsetzen. Hier wirkt seine Elektrostimulation im Sinne des sogenannten „Gate Control“, wobei die Weiterleitung jener Schmerzsignale im Rückenmark an das Gehirn durch elektrische Signale moduliert wird und so zu einer Blockade der Schmerzwahrnehmung führt.

„Statt der Antagonisten-Hemmung unterdrücken wir diese Schmerzsignale in den betroffenen Bereichen, indem wir elektrische Signale darüberlegen. In etwa so, als würden sie hier im Saal reden und ich nehme mein Mikrofon und rede auch, dann bin ich lauter als sie“, führt Salzmann aus.

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Sowohl die Linderung von Spasmen, als auch die Unterdrückung der Schmerzwahrnehmung bei Fibromyalgie ist laut den Studien, die Ottobock dazu bereits durchgeführt hat, signifikant. In einer Open-Label-Studie zur Reaktion auf Gruppenebene auf die Anzugstimulation bei Patienten mit CP, MS und Schlaganfall etwa zeigten sich nachhaltige Auswirkungen auf das statische und dynamische Gleichgewicht, das Sturzrisiko, die Mobilität, sowie eine allgemeine Steigerung der Teilhabe und eine Verringerung der Schmerzen.

Anzug spricht nicht jeden an

Für Fibromyalgie belegt eine weitere Studie bei 78 Prozent der Teilnehmer eine deutliche Verbesserung des klinischen Gesamteindrucks. Der Orthopädietechnikhersteller betont indes, dass sowohl Spasmen als auch die Schmerzwahrnehmung bei Fibromyalgie nur Symptome sind – die sie verursachende Krankheit wird durch diese Maßnahme also nicht geheilt.

Zudem gebe es durchaus Patienten, bei denen der Anzug nicht anspreche. Daher hat der Hersteller bis dato mehr als 100 Sanitätshäuser zertifiziert, in denen sich testen lässt, ob Betroffene auf die Elektrostimulation des Anzugs reagieren. Trifft das zu, muss er von den behandelnden Neurologen oder Hausärzten verschrieben werden.

Erstattung nur im Einzelfall

Obwohl der Anzug in Europa als medizinisches Hilfsmittel zertifiziert ist, müssen Anwender derzeit allerdings hart dafür kämpfen, um die rund 8500 Euro, die dafür anfallen, erstattet zu bekommen. Trotz positiver Einzelfall-Entscheidungen vertreten die Krankenkassen regelmäßig die Auffassung, dass es sich hier um ein medizinisches Hilfsmittel handelt, das eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode darstelle.

Folglich könne er nicht beansprucht werden, da er weder im Hilfsmittelverzeichnis der GKV gelistet ist, noch eine positive Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses vorliegt. Auch die deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft schreibt in ihrer Stellungname, dass der Einsatz derzeit nicht generell empfohlen werden könne. Um die Wirksamkeit des innovativen Hilfsmittels beurteilen zu können, seien weitere Studien notwendig.

„Ohne eine entsprechende differenzierte Analyse besteht die Gefahr, dass der Nutzen eines Verfahrens überschätzt oder falsch eingeordnet wird. Vor diesem Hintergrund halte ich es für sinnvoll, vor einer generellen Empfehlung die Ergebnisse größer angelegter, qualitativ hochwertiger Studien abzuwarten, um sowohl den potenziellen Nutzen als auch eventuelle Limitationen und Zielgruppen präzise benennen zu können“, ergänzt Prof. Dr. Hayrettin Tumani, einer der Verfasser dieser Stellungnahme. 

Steigende Nutzerzahlen

Als Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie der Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm (RKU) hat Tunami selbst bereits positive Erfahrungen mit Patienten gemacht, die den Anzug tragen. Dennoch verschreibt er ihn derzeit nur, wenn alle anderen Behandlungsmethoden nicht ansprechen.

Diese Situation könnte sich allerdings bald ändern, denn Tumani führt derzeit am RKU selbst eine Studie zu dem Thema durch. Auch Ottobock hat weitere Studien bereits in Auftrag gegeben, die erste dieser Art soll in der zweiten Jahreshälfte publiziert werden. Die steigenden Nutzerzahlen – laut des Herstellers allein in Deutschland mittleiweile über 1000 – sprechen jedenfalls für die Effizienz der innovativen Behandlungsmethode. Die MS-Patientin Kerstin etwa konnte Dank des Anzugs von Süddeutschland bis Berlin sogar wieder mit ihrem Auto fahren. Ohne das innovative Hilfsmittel war das undenkbar.

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