
Die Notaufnahmen an deutschen Krankenhäusern sind am Limit. Es ist beinahe Usus, dass – besonders abends und am Wochenende – die Notaufnahmen der Krankenhäuser im Akutfall konsultiert werden. Doch nicht jeder Patient, der dort aufschlägt, ist auch wirklich ein Notfall. Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) ist sich sicher, dass jeder dritte Notfall in einer Arztpraxis besser aufgehoben wäre. Daher tritt er mit der Ampelkoalition an, die Notfallversorgung zu reformieren. Eine Steuerung der Patientenströme in die am besten geeignete Versorgungsebene ist für ihn die Basis und daher im Gesetz mitgedacht: Vertragsärztlicher Notdienst, Notaufnahmen der Krankenhäuser und Rettungsdienste müssen besser vernetzt und aufeinander abgestimmt werden. Anfang Juni legte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den Referentenentwurf für die Notfallreform vor. Gestern wurde der Gesetzentwurf im Bundestag in der ersten Lesung diskutiert.
Das Gesetz ist noch kein praktikables Gesamtkonzept zur Patientensteuerung.
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß, teilt an vielen Stellen die Auffassung des Bundesgesundheitsministers und ist sehr zufrieden, dass der Bund diese Reform auf den Weg gebracht hat: „Wir versprechen uns von diesen neuen Regelungen im Gesetz, dass nicht nur weniger Patientinnen und Patienten im Krankenhaus ankommen, sondern vor allem nur noch diejenigen, die auch wirklich stationäre Behandlungsstrukturen benötigen.“
Auch der GKV-Spitzenverband erkennt an, dass das Notfallgesetz „viele richtige Ansatzpunkte“ enthalte. Ebenso der Marburger Bund (MB), der „das Bemühen, die Koordinierung der Beteiligten auf eine neue Grundlage zu stellen“ ebenfalls unterstützt und gerade den „medienbruchfreien Datenaustausch zwischen allen an der ambulanten Notfallversorgung Beteiligten“ begrüßt. Dr. Susanne Johna, erste Vorsitzende des Marburger Bunds sieht jedoch noch erheblichen Klärungsbedarf im Gesetzentwurf, denn besonders beim Datenaustausch fehle es klaren Umsetzungsperspektiven. „Auch deshalb ist das Gesetz noch kein praktikables Gesamtkonzept zur Patientensteuerung“, erklärte Johna anlässlich der Lesung. Anders sieht die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) die Gesetzesvorlage. Sie schätzt die Notfallreform als so nicht umsetzbar ein und warnt vor Doppelstrukturen, Personalmangel und Unterfinanzierung.
Akutleitstellen und Notfallzentren sollen kommen
Die Lösungen des Referentenentwurfs aus dem Bundesgesundheitsministerium, um die Versorgungsstrukturen für die Versicherten künftig leichter zugänglich zu machen, fußen im Detail auf zwei Säulen: Akutleitstellen und Notfallzentren.
Egal ob Patientinnen und Patienten in Zukunft die 112 oder die 116 117 anrufen, beide Rufnummern arbeiten künftig zusammen. Die altbekannte Rufnummer 116 117 avanciert zur im Gesetz benannten „Akutleitstelle“, in der Kompetenzen aufgebaut werden sollen, damit die Behandlungsdringlichkeit der Beschwerde und die Einschätzung zum weiteren Vorgehen dort erfolgen kann. Eine Erstzuordnung der Patienten in die richtige Versorgungsebene – ambulant oder stationär – soll hier also künftig bereits im Vorfeld vorgenommen werden.
Das BMG rechnet langfristig mit Einsparungen von knapp einer Milliarde Euro.
Weiterhin sollen in den Akutleitstellen jedoch auch – rund um die Uhr – telemedizinische und aufsuchende Notdienste zur medizinischen Erstversorgung zur Verfügung stehen. Die altbewährten Bereitschaftsdienste mit Hausbesuchen, die die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) sicherstellen, werden also weiter existieren und sogar erweitert. „Wer ambulant behandelt werden kann und wem vielleicht sogar telefonische oder videogestützte Beratung genügt, der muss nicht ins Krankenhaus“, sagt Lauterbach. Ob diese Rechnung aufgeht, bleibt abzuwarten. Hier müsste ein Umdenken auch in der Bevölkerung stattfinden. Das bedarf einer Stärkung der Gesundheitskompetenz – bereits von Kindesbeinen an – und Aufklärung der Bevölkerung, wie es die Bundesärztekammer (BÄK) in ihrem Konzeptpapier fordert. Zudem muss die wechselseitige digitale Fallübergabe zwischen Akutleitstelle der KVen und den Rettungsdienstleitstellen funktionieren. Das sehen nicht alle unkritisch.
Noch ein weiteres Novum gibt es: Diese Akutleitstellen sollen sich auch um zeitnahe Termine in entsprechenden niedergelassenen Arztpraxen kümmern. „Das kennen die Patienten bislang so nicht und lange Wartezeiten auf Facharzttermine waren oft ein Grund, warum sie eine Notfallambulanz aufgesucht haben. Das ist aus unserer Sicht daher ein wichtiger Bereich, den wir ausdrücklich unterstützen“, erklärt DKG-Chef Gaß.
Zudem wird es eine neue Struktur für Notfälle geben: Integrierte Notfallzentren (INZ) an oder in einem Krankenhaus sollen flächendeckend etabliert werden. Das bedeutet: In der Klinik werden Notaufnahme und Notdienstpraxis der KV sowie eine zentrale Ersteinschätzungsstelle kombiniert. Der Minister will damit bewirken, dass Akutversorgung künftig dort stattfindet, wo sie medizinisch sinnvoll sei. Und er will Kosten sparen. Das BMG rechnet langfristig mit Einsparungen von knapp einer Milliarde Euro. Doch erst einmal werden Mehrkosten anfallen – für den Ausbau des aufsuchenden Dienstes und die Akutleitstellen sowie die Beteiligung an INZ und auch für die digitale Vernetzung – bevor es zu einer Reduzierung von stationären Krankenhausaufnahmen kommt und sich diese finanziell im System spürbar machen.
Sorge um fehlendes Personal
Flächenländer wie Bayern sehen zudem die Gefahr, „dass die Regelungen der Notfallreform den Bogen beim verfügbaren Personal“ überspannt. Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) warnt vor zu hohen Personalvorgaben, „die nicht umsetzbar sind (…) und die ambulante Versorgung in der Fläche zusätzliche gefährden“. Auch der GKV-Spitzenverband plädiert dafür, den „Ausbau der bestehenden Strukturen mit Augenmaß“ zu verfolgen. Die KVen dürften nicht vor unlösbare Personalprobleme gestellt werden. Ebenfalls Kritik an den Reformplänen des BMG übt der Hausärzteverband und bläst ins gleiche Horn. Die Bundesregierung verspreche Versorgungsangebote, ohne zu sagen, woher das Fachpersonal dafür kommen solle.
Diese Einwände sind nicht unbegründet, gab es doch im Herbst 2023 ein Urteil des Bundesozialgerichts zu den Poolärzten, das vielerorts die Sicherstellung des Bereitschaftsdienstes durch die KVen bereits heute herausfordernd gestaltet. Daher verwundert es nicht, dass die BÄK die Schaffung ausreichender ambulanter und stationärer Kapazitäten als Grundvoraussetzung für das Gelingen der Reform fordert. Denn: Es fehlen landauf landab bereits heute Ärztinnen und Ärzte, gerade im hausärztlichen Bereich.
Die Reformpläne des Bundesgesundheitsministeriums sind nicht umsetzbar und schädlich für die ambulante Versorgung.
Die KV Niedersachsen sieht die Reformpläne des BMG gar als „nicht umsetzbar und schädlich für die ambulante Versorgung.“ Der stellvertretende KV-Vorsitzende Thorsten Schmidt ist nicht ganz so optimistisch wie Lauterbach an dieser Stelle: „Sollten die Kassenärztlichen Vereinigungen tatsächlich per Gesetz verpflichtet werden, Ärztinnen und Ärzte in der Akutversorgung für Notdienstpraxen an Krankenhäusern, für telemedizinische Beratungen und für einen fahrenden Bereitschaftsdienst 24/7 einzuteilen, dann müssen zwangsweise die Praxen geschlossen werden.“ Er stellte klar, dass eine notdienstliche Akutversorgung durch Vertragsärzte rund um die Uhr an sieben Tage die Woche definitiv nicht leistbar sei und prangerte an, dass der Minister neben der Finanzierung auch die Personalausstattung der geplanten Strukturen offen lasse.
Auch die KBV bemängelt, dass ein 24/7-Fahrdienst für die Akutversorgung im Rahmen des Sicherstellungsauftrages weder versorgungsnotwendig sei noch wirtschaftlich. „Der Betrieb eines solchen Notdienstes während der Praxisöffnungszeiten schafft zudem Doppelstrukturen, die wir uns angesichts der ohnehin knappen Personalressourcen unter keinen Umständen leisten können – von der mangelhaften Finanzierung ganz zu schweigen“, erklärten die Vorstände der KBV nach der Debatte im Bundestag gestern.
Noch nicht alles final geklärt
Das Notfallgesetz ist eines von vielen Gesetzen, die Lauterbach mit seinem Ministerium in diesem Jahr bearbeitet hat. Ähnlich wie beim Gesundes-Herz-Gesetz, der Krankenhausreform oder auch dem Pflegekompetenzgesetz ist auch die Notfallreform nicht unumstritten. Die DKG sieht die durch Kabinettsbeschluss verabschiedeten Reformpläne zur Notfallversorgung „grundsätzlich positiv“. Dennoch sei weder eine auskömmliche Finanzierung im nun beschlossenen Gesetz geklärt noch die Frage der Investitionskosten für die INZ sowie deren Standorte. „Im bisherigen Gesetz ist keine Aussage dazu zu finden, die darauf hindeutet, dass der Bund hier an dieser Stelle noch Veränderungen plant, die dann dazu führen würden, dass die eh schon defizitäre Behandlung von ambulanten Notfallpatienten, behoben wird“, führt Gaß im Gespräch mit kma aus. Ein weiter so sei aus Sicht der Kliniken nicht akzeptabel, „schon gar nicht angesichts der finanziellen Gesamtlage der Krankenhäuser“.
Der DKG-Chef ist zudem unzufrieden über die offen gelassene Antwort auf die Frage der Investitionskosten: „Es wird zum Teil räumlichen und technischen Anpassungsbedarf geben, was aus unserer Sicht in den Investitionsförderbereich der Länder hineinfällt.“ Es gelte zwar die Tatsache, dass ambulante Versorgungsleistungen nicht durch die Länder gefördert werden dürfen. „Hier geht es aus unserer Sicht aber um Investitionen, die sehr wohl den Ländern zugeordnet werden müssen“, schätzt Gaß die Gemengelage ein.
Kritik an Standortfrage der INZ
Auch die Standortfrage der INZ sieht Gaß nicht bei den erweiterten Landesausschüssen – wie derzeit im Gesetz geplant. „Das gehört in die Verantwortung der Landesplanungsausschüsse, die von den Ministerien eingerichtet wurden, um Krankenhausplanung im jeweiligen Bundesland zu organisieren“. Wichtig sei dies gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Diskussionen um die Krankenhausstrukturreform. Hat eine Klinik eine wichtige Rolle in der Notfallversorgung, hat dies auch unmittelbare Folgen für den Fortbestand der Klinik: „Daher fordern wir, dass die Länder, also die Landesplanungsausschüsse, künftig die Standortentscheidungen für die INZ treffen. Die Auswahl betrifft ganz klar öffentliche Daseinsvorsorge, da müssen diejenigen Verantwortung übernehmen, die dazu auch demokratisch legitimiert sind“, erklärt Gaß.
Die Länder, also die Landesplanungsausschüsse, müssen künftig die Standortentscheidungen für die INZ treffen.
Dass die Notfallreform gerade im Hinblick auf die INZ zwingend mit der Krankenhausreform koordiniert werden müsse, sieht auch der Marburger Bund so. „Es versteht sich eigentlich von selbst, dass die Anbindung eines INZ-Standortes an die Voraussetzung einer Notfallstufe gemäß dem System der Notfallstrukturen des Gemeinsamen Bundesausschusses mit der Krankenhausplanung Hand in Hand gehen muss. Leider können wir nicht erkennen, dass dieser Gedanke Eingang in die gesetzgeberischen Überlegungen gefunden hat“, kritisiert Johna. Auch Stefanie Stoff-Ahnis, stellvertretende Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, will „eine bundesweit gleichwertige Notfallversorgungsstruktur“ und sieht es daher als notwendig an, dass beispielsweise die zentralen Strukturvorgaben für die Standortauswahl von INZ auf Bundesebene nach Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses vorgenommen werden.
DKG: Rettungsdienstreform separat regeln
Die Reform des Rettungsdienstes soll sich nun an die Notfallreform anschließen. Dabei soll der Rettungsdienst als eigenständiger Leistungsbereich ins SGB V aufgenommen werden. Das BMG plant derzeit, die Inhalte der Rettungsdienstreform im parlamentarischen Verfahren noch als Teil der Notfallreform aufzunehmen. Das gefällt nicht allen.
Der Verband der Ersatzkassen (vdek) sieht, dass die Maßnahmen im Gesetzentwurf nicht ausreichen, und mahnt eine zügige strukturelle Reform des Rettungsdienstes an, um „eine durchgängige Veränderung der Behandlungspfade in der Notfallversorgung zu organisieren“.
Stoff-Ahnis fordert unterdessen, dass „auch der Rettungsdienst in das Gesetzgebungsverfahren eingegliedert werden“ sollte. Auch die BÄK findet es „bedauerlich“, dass der Rettungsdienst als dritte und bislang am wenigsten integrierte Säule der Akut- und Notfallversorgung nicht direkt ins Gesetz eingebunden wurde, sondern nachgelagert werden soll. Das sehen auch einige Fraktionen wie die der Grünen so. Als Notfallmediziner will sich der Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Dr. Janosch Dahmen, „dafür einsetzen, dass die Reform nicht nur Krankenhäuser und Kassenärzte, sondern auch den Rettungsdienst umfasse“.
Manche Regelungen beim Rettungsdienst sind hoch umstritten zwischen Bund und Ländern.
Die DKG hingegen begrüßt das jetzige Notfallgesetz ohne Regelungen zum Rettungsdienst, denn die derzeitige Notfallreform könne der Bund ohne Zustimmungspflicht auf den Weg bringen. Die Wahrscheinlichkeit der Anrufung des Vermittlungsausschusses, die zwar prinzipiell über einem solchen Gesetzgebungsverfahren schwebt, ist laut Einschätzung der Kliniken aber sehr gering. Das Gesetz sei in seiner jetzigen Form mit den Ländern „kompromissfähig“, ist sich Gaß sicher. Er befürchtet hingegen, dass es schwierig werde, wenn es nun zu Änderungsanträgen aus den Fraktionen kommt, die diesen Kabinettsentwurf noch einmal modifizieren und Regelungen zum Rettungsdienst aufnehmen.
„Wir wissen, Rettungsdienst liegt in der Zuständigkeit der Länder und manche Regelungen sind hoch umstritten zwischen Bund und Ländern. Wir sehen die Gefahr, dass ein Gesetzentwurf mit Regelungen des Rettungsdienstes die Abstimmung im Bundesrat nicht passieren wird und wir in dieser Legislaturperiode die notwendige Reformen – auch die Notfallreform – nicht mehr bekommen“, erklärt Gaß. Daher plädiert die DKG klar dafür, die Rettungsdienstreform separat zu regeln und mit den „Ländern in einen Diskussionsprozess einzutreten und für diese Reform nicht die Hintertür über Änderungsanträge zu nehmen“.








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