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Digitaler VerbundPatientenportal, Rechenzentrum, IT-Sicherheit – Was Bayern vorhat

Ein gewaltiges Projekt, das für einen digitalen Verbund von über 100 Krankenhäusern steht. Welche Lösungen gibt es schon, und wie sind die Perspektiven – die bayerische Geschichte eines eigentlich undenkbaren Erfolgs.

Vernetzung
thodonal/stock.adobe.com
Symbolfoto

In den kommenden Monaten entsteht in Bayern ein Patientenportal, das in mehr als 110 Krankenhäusern in Betrieb geht. Jetzt trafen sich im fränkischen Forchheim Vertreter der Krankenhäuser und des Partners Siemens Healthineers, um die Umsetzung dieses Großvorhabens zu starten. Auf einen Schlag entsteht so ein digitaler Verbund von Krankenhäusern mit jetzt schon mehr als 26 000 Betten.

„Die Idee zu einem Patientenportal, das von mehreren Krankenhäusern genutzt wird, ist innerhalb der Klinik Kompetenz Bayern entstanden“, erinnert sich der Projektleiter Andreas Lange, im Hauptberuf Bereichsleiter Digitalisierung und Innovation (CIO) der Kliniken Südostbayern AG. Die Klinik Kompetenz Bayern (KKB) unterstützt als Genossenschaft kommunale und freigemeinnützige Kliniken in Bayern, sich wirtschaftlich und organisatorisch besser aufzustellen. Bei der Diskussion um den Fördertatbestand 2 des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG), der die Patientenportale adressiert, kam die Frage auf, wie die Patienten wohl darauf reagieren, wenn jedes Krankenhaus sein eigenes Portal aufbaut. Die Patienten müssten dann fünf oder sechs verschiedene Patientenportale auf dem Smartphone installieren, um mit den Krankenhäusern in ihrer Region kommunizieren zu können, mutmaßte Lange.

Martin Gösele
Matthias Baumgartner
Martin Gösele, seit März 2012 Vorstand der Wertachkliniken. Er ist auch im Vorstand der 2023 gegründeten Klinik IT Genossenschaft.

Es ging nicht darum, Geld zu sparen, sondern einen Nutzen für den Patienten zu erzielen.

Bereits im Vorfeld des Krankenhausaufenthalts können Patienten online Formulare ausfüllen und Dokumente hochladen, um den Aufnahmeprozess zu verkürzen. „Das ist wie bei der Flugbuchung“, vergleicht Martin Gösele, Vorstand der neu gegründeten Klinik IT Genossenschaft und Vorstand der Wertachkliniken. „Früher gab es lange Schlangen am Schalter, heute erfolgt dieser Prozess von zu Hause aus.“  Eine weitere Frage, die sich ergab: Wie können die Daten, die bei den diversen Krankenhausaufenthalten eines Patienten anfallen, effektiver zugänglich gemacht werden. So entstand die Idee zu einem gemeinsamen Patientenportal, das viele Krankenhäuser nutzen können. Das Portal soll auf einer Interoperabilitätsplattform basieren, die den Datenaustausch zwischen den Häusern ermöglicht und an die zukünftig auch weitere gemeinsame Anwendungen andocken können. „Es ging bei unseren Überlegungen nicht darum, Geld zu sparen, sondern einen Nutzen für den Patienten zu erzielen“, so Lange.

Krankenhäuser müssen die Digitalisierung nicht alleine meistern

Kleinere Häuser wären vermutlich personell und mit den Kosten für die Ausschreibung überfordert gewesen. „Bis jetzt hat jede Klinik gewissermaßen ihr eigenes Brot gebacken“, so Gösele. „Wir haben in einer so heterogenen Kliniklandschaft eine Gemeinschaft hinbekommen. Keiner muss mehr alleine die die Herausforderungen der Digitalisierung meistern.“  Da die Interoperabilitätsplattform in der Zukunft noch für weitere Projekte genutzt werden soll, wurde mit Unterstützung der Bayerischen Krankenhausgesellschaft und der KKB eine eigene Projektträgergesellschaft, die Klinik IT Genossenschaft (KIG), gegründet. Da diese Gesellschaft zum Zeitpunkt der Ausschreibung noch in Gründung und nicht geschäftsfähig war, übernahm die KKB diese Aufgabe.

Mit der Vertragsunterzeichnung nach der Ausschreibung ging die Verantwortlichkeit für den Roll-out und Betrieb des Patientenportals von der KKB an die KIG über, die die Bedarfe der Krankenhäuser koordiniert und die Dienstleister und Kliniken durch ein zentrales Projekt- und Servicemanagement zusammenführt. „Wir sind deutlich mehr als ein Einkaufsverbund“, stellt Gösele fest. „Die Bündelung von Bedarfen der Krankenhäuser und zentrale Steuerung von Dienstleistern macht IT-Lösungen für Krankenhäuser zugänglich, die in dieser Dimension bislang einzelnen Häusern nicht zugänglich waren.“

Wir sind deutlich mehr als ein Einkaufsverbund.

Die Systemlösung für das Patientenportal wurde europaweit ausgeschrieben, den Zuschlag erhielt Siemens Healthineers. „Das Projekt hat eine klare Struktur, lässt aber gleichzeitig die Vielfalt der beteiligten Krankenhäuser zu“, erläutert Dr. Benedict Gross, der bei der KIG für das Projektmanagement zuständig ist. Um die Kliniken aktiv in das Projekt einzubinden, wurde neben einem Lenkungsausschuss und den üblichen Projektrollen zum Beispiel auch Projektgruppen für die Technikexperten und die Prozess- und Change Management-Profis der Krankenhäuser ins Leben gerufen. „Eine Lösung von dieser Dimension kann nur kollaborativ mit den Dienstleistern und Auftraggebern entstehen. Das Know-how und die Beteiligung der Experten aller Krankenhäuser ist vielleicht der größte Erfolgsfaktor des Projekts“ sagt Gross.

Echte Vernetzung

Getrieben durch das KHZG müssen sich derzeit alle Krankenhäuser mit der Beschaffung eines Patientenportals beschäftigen. Einzellösungen haben unweigerlich die Folge, dass Datensilos entstehen, die zukünftig wieder aufwändig vernetzt werden müssen. „Erstmals wurde der Ansatz verfolgt, eine echte digitale Vernetzung von Leistungserbringern zu erreichen. Darin bestand für uns der besondere Reiz des Projekts“, erklärt Thilo Mahr, bei Siemens Healthineers zuständig für Market Access und digitale Lösungen. Technologische Grundlage des neuen Patientenportals, das in naher Zukunft über 100 Krankenhäuser nutzen sollen, ist die Interoperabilitätsplattform, die ausschließlich internationale Standards verwendet. „Die Zeiten, in denen wir proprietären Lösungen den Vorzug gaben, sind längst vorbei“, sagt Mahr.  

Thilo Mahr
Privat
Thilo Mahr von Siemens Healthineers.

Die Zeiten, in denen wir proprietären Lösungen den Vorzug gaben, sind längst vorbei.

Siemens Healthineers hat nicht vor, die geplante Interoperabilitätsplattform von Grund auf neu zu entwickeln. Mahr verweist auf die jahrelange Erfahrung des Unternehmens mit Plattformen für das Gesundheitswesen, wie sie etwa bei der Elga (elektronische Gesundheitsakte) in Österreich oder dem elektronischen Patientendossier (EPD) in der Schweiz zum Einsatz kommen. Zurzeit baut Siemens mit der Schweizerischen Post eine Plattform für weitere E-Health-Dienste neben dem EPD auf. Auch für die bayerischen Kliniken setzt das Erlanger Unternehmen auf seine Plattform Suite eHealth Solutions, die in europäischen Projekten an die Besonderheiten der einzelnen Länder angepasst wird. „Im Projekt geht es weniger um das Entwickeln, sondern um das Verknüpfen von Bausteinen unserer Plattformtechnologie, die wir mit Lösungen unserer Partner anreichern.“

Mehrere Partner an Bord

Siemens Healthineers baut die Interoperabilitätsplattform als Generalunternehmer. Für die einzelnen Komponenten des Patientenportals holt sich das Unternehmen Partner ins Boot, die bis vor Kurzem teilweise noch Start-ups waren und sich mit ihren Lösungen auf dem deutschen Markt etabliert haben. Das Patientenportal zum Beispiel soll Samedi bauen. Das Unternehmen zählt zu den Pionieren bei der Online-Terminbuchung in Deutschland. Siemens Healthineers hat zwar ein eigenes Patientenportal im Portfolio, das aber auf den internationalen Markt ausgerichtet ist. „Das Patientenportal von Samedi ist sehr stark fokussiert auf die Anforderungen des Fördertatbestands 2 im KHZG“, so Mahr. Die Samedi-Plattform ist bereits in zahlreichen Krankenhäusern im Einsatz. Der Asklepios-Konzern zum Beispiel verzeichnet seit dem Start vor vier Jahren rund eine Million Online-Terminbuchungen über die Plattform Samedi.

Für das Entlass- und Überleitungsmanagement hat sich Siemens Healthineers für das Unternehmen Nubedian entschieden. Den Kommunikationsserver soll Vireq beisteuern, die Patienten-ID kommt von Adesso. Ein weiterer Teil der Lösung, das sogenannte Ärzteportal, stammt von Siemens selbst. Kernstück der Lösung könnte ein Dashboard sein, das für den Arzt ein Gesamtbild des Patienten aus unterschiedlichen Datenquellen erstellt – sofern der Patient sein Einverständnis gegeben hat. Strukturierte und unstrukturierte Daten oder auch medizinische Bilder können von verschiedenen Einrichtungen wie etwa einem allgemeinen Krankenhaus und einer Fachklinik abgerufen und im Dahsboard kombiniert werden. Doppeluntersuchungen oder das Hinterhertelefonieren nach Befunden oder Arztbriefen soll damit entfallen. Auch der ambulante Sektor soll perspektivisch an das Portal angebunden werden. Die Gespräche dazu laufen bereits.

Herausforderung KIS

Die gesamte Plattform verwendet ausschließlich etablierte Standards wie IHE oder HL7. Eine Herausforderung im Projekt stellt die Anbindung der Primärsysteme wie der Krankenhausinformationssysteme (KIS) dar. Zwar verwenden auch die KIS-Anbieter standardisierte Schnittstellen. Erfahrungsgemäß wird der Datenaustausch aber nicht auf Anhieb reibungslos funktionieren. „Wir werden Anforderungsprofile für die KIS-Hersteller definieren, damit diese eine Schnittstelle zum Portal bauen können “, sagt Lange. Bei den derzeit 110 Krankenhäusern haben die Verantwortlichen bereits mehr als zehn verschiedene KIS identifiziert, die im Rahmen des Projekts angebunden werden müssen.

Neben der technischen Anbindung müssen auch neue digitale Prozesse in den Krankenhäusern definiert werden. Jede Klinik hat heute zum Beispiel ihren eigenen Aufnahmeprozess. Einige Häuser arbeiten bereits vollständig digital, andere zum Teil noch papierbasiert. Zurzeit erarbeiten Arbeitsgruppen Blaupausen für die digitalen Aufnahme- und Entlassprozesse. „Wenn zum Beispiel der Aufnahmeprozess in unseren Häusern identisch aussehen würde, müssten sich die Patienten nicht umorientieren. Sie hätten, was das Patientenportal angeht, eine einheitliche User Experience“, so Lange. „Würde sich dann auch noch der Prozess, den der Patient im Krankenhaus durchläuft, nach und nach angleichen, gäbe es nur noch Unterschiede in der medizinischen Versorgung.“ Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

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Unterstützung durch „Change Teams“

Zunächst geht es auch darum, die Bedürfnisse der unterschiedlichen Häusergrößen für die Blaupausen zu berücksichtigen. Für die Anpassung der Prozesse – das organisationale Change Management – hat sich Siemens Healthineers die Dienste des Beratungsunternehmens Accenture gesichert. Je nach Anpassungsbedarf erhalten die Häuser Unterstützung durch „Change Teams“, die Analysen vornehmen und entsprechende Empfehlungen für die Umsetzung geben. Mahr rechnet damit, dass die Unterstützung von Haus zu Haus unterschiedlich sein wird, je nachdem, welche Prozesse bereits heute schon digital abgebildet werden. In Einzelfällen haben Krankenhäuser bereits eine Lösung für die Online-Terminbuchung oder das Entlassmanagement im Einsatz, an der sie – die Interoperabilitätsplattform macht es möglich – festhalten können.

Die Pilotierung soll ab Frühjahr 2024 in fünf Krankenhäusern unterschiedlicher Größe stattfinden. Der Roll-out selbst soll in elf „Technologiewellen“ erfolgen, die sich an die Größe der Häuser und der eingesetzten Technologie orientieren. Dadurch hoffen die Beteiligten, den engen Zeitplan einhalten zu können und den Roll-out bis Anfang 2025 abzuschließen. Wie geht es dann weiter?

Weitere Ausschreibungen und Projekte

Nachzügler, die sich nicht rechtzeitig gemeldet haben, konnten aus vergaberechtlichen Gründen bei der ersten Ausschreibung für das Patientenportal nicht berücksichtigt werden. „Im nächsten Jahr wird es eine weitere Ausschreibung für das Patientenportal geben, die zu einhundert Prozent kompatibel sein wird zur jetzigen Lösung“, so Lange. So können Krankenhäuser noch innerhalb der KHZG-Fristen an dem gemeinsamen Patientenportalsystem teilnehmen und Mitglied des digitalen Verbunds werden. Parallel läuft bereits die Ausschreibung für ein zentrales Rechenzentrum, in dem die Lösung gehostet werden soll.

Das nächste Projekt, das die Klinik IT Genossenschaft nach dem Patientenportal angehen möchte, befasst sich mit der IT-Sicherheit. Der Antrag auf Fördermittel ist bereits gestellt. Konkret geht es darum, ein sogenanntes Incident Response Team einzurichten, das allen Krankenhäusern im Verbund zur Verfügung steht. Hackerangriffe erfolgen oft an den Wochenenden und Feiertagen, wenn die IT-Abteilungen schwach besetzt sind. Die betroffenen Einrichtungen, die ihren Betrieb aufrechterhalten müssen, sollen so Hilfe von externen Fachleuten und Klinikexperten erhalten. Das Incident Response Team soll dabei unterstützen, die Systeme wieder zum Laufen zu bringen, sie virenfrei zu machen sowie Ursachenforschung betreiben.

Es ist ein Irrglaube, dass im Krankenhaus wirklich die Daten am sichersten sind.

Auch ein Archivsystem für Krankenhäuser ist geplant. „Es ist ja ein Irrglaube, dass im Krankenhaus wirklich die Daten am sichersten sind. Genau das Gegenteil ist der Fall – bei solchen technischen Systemen lassen sich Sicherheit und Qualität am besten mit professionellen Industrielösungen erreichen, anstatt in kleinen Individuallösungen“, erläutert Gösele. Die Archivdaten der Krankenhäuser könnten im durch die Genossenschaft gebündelten Rechenzentrumsbetrieb nicht nur sicher aufbewahrt, sondern auch rund um die Uhr von Experten überwacht und so vor Cyberangriffen geschützt werden.

Auch für die Zukunft gehen den Mitgliedern der Klinik IT Genossenschaft die Ideen sicherlich nicht aus. Über die Interoperabilitätsplattform ließe sich zum Beispiel auch die elektronische Patientenakte (ePA) einbinden und ein Kontakt zur Telematikinfrastruktur herstellen. Die Bayern haben noch viel vor.

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