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KommentarGesundheitspolitische Zukunft – Die Sterne stehen günstig

Der Koalitionsvertrag lässt auf einen Richtungswechsel hoffen – auch dank Primärarztsystem. Doch wie steht es um die Finanzierung des Gesundheitssystems? Und wie wird sich Nina Warken in ihrem neuen Amt machen? Ein Gastkommentar von Philipp Köbe.

Philipp Köbe
Privat
Philipp Köbe ist freiberuflicher Dozent und Unternehmensberater im Gesundheitswesen.

Mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags steht die neue Bundesregierung in den Startlöchern. Große gesundheitspolitische Sprünge darf man von diesem Papier zwar nicht erwarten – aber es enthält zumindest einige Impulse, die Hoffnung machen. Hoffnung darauf, dass nach Jahren der Flickschusterei wieder ein politisches Grundverständnis reift, wie Versorgung gesteuert, Qualität gesichert und knappe Mittel gezielter eingesetzt werden können. Ein Durchbruch ist das noch nicht. Aber vielleicht ein Richtungswechsel – weg vom strukturellen „Weiter so“, hin zu mehr Koordination, Planbarkeit und ökonomischem Realismus.

Das Primärarztsystem kommt

Die vielleicht weitreichendste Ankündigung ist die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems. Nach Jahren diffuser Zuständigkeiten, in denen Facharzttermine oft über Vitamin B, Terminservicestellen oder mit langen Wartezeiten organisiert wurden, soll nun wieder ein klarer Gatekeeper installiert werden. Die Hausärzte werden zur zentralen Koordinationsinstanz – nicht als Hürde, sondern als Navigatoren durch ein immer komplexeres Versorgungssystem. Das ist nicht nur systemisch klug, sondern auch gesundheitspolitisch überfällig. Denn in keinem anderen Land mit vergleichbaren Kostenstrukturen ist der Zugang zur Versorgung so ungefiltert, so beliebig – und oft so ineffizient wie hierzulande. Ein klug ausgestaltetes Primärarztsystem kann Versorgung steuern, Überversorgung reduzieren und Ressourcen dorthin lenken, wo sie gebraucht werden: in Prävention, Beratung und koordinierte Langzeitversorgung.

Die GKV-Finanzierung darf nicht zur Belastungsprobe werden

Doch so vielversprechend die Strukturreformen auch sind, sie stehen auf wackeligem Fundament, solange die gesetzliche Krankenversicherung finanziell auf Kante genäht bleibt. Die Koalition spart das Thema im Vertrag weitgehend aus – dabei sind die Haushaltslöcher absehbar. 

Demographischer Wandel, medizinischer Fortschritt und Fachkräftemangel lassen die Ausgaben explodieren, während Einnahmen stagnieren oder bei einer anhaltend schwachen Wirtschaftsentwicklung sogar rückläufig sein könnten. Es ist an der Zeit, ehrlich zu diskutieren, was das System in Zukunft leisten kann – und was nicht. Die Option einer sozial ausbalancierten Selbstbeteiligung gehört auf den Tisch. Nicht als Strafsteuer für Kranke, sondern als Instrument der Solidarität und Systemresilienz. Frankreich, Schweden oder die Niederlande machen vor, wie intelligente Zuzahlungen Lenkungswirkung entfalten und dennoch sozial abgefedert werden können.

Das Sondervermögen als Innovationsmotor?

Die Finanzierung gesundheitsrelevanter Infrastruktur soll nicht länger allein über Beitragszahler laufen. Das neue Sondervermögen „Infrastruktur“ könnte der notwendige Hebel sein, um Digitalisierung, sektorenübergreifende Versorgung und ambulante Versorgungseinheiten endlich groß zu denken. Wenn das Geld nicht in Status-Quo-Verteidigung verpufft, sondern in Transformation investiert wird, liegt hier ein echter Gamechanger. Entscheidend ist jedoch, dass Investitionen mit strategischer Steuerung einhergehen. Wer alles finanziert, finanziert am Ende nichts richtig. Die Chance liegt in der Priorisierung. Regionalversorgung stärken, Spezialisierung fördern, ambulant vor stationär ermöglichen – und endlich die Versorgung am Bedarf der Menschen statt an der Logik der Institutionen ausrichten.

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Resilienz im Verteidigungsfall

Ein Aspekt, der im Koalitionsvertrag auffällig unterbelichtet bleibt, ist die Resilienz des Gesundheitssystems im Verteidigungs- oder Krisenfall. Dabei ist längst Konsens in sicherheitspolitischen Kreisen, dass ein modernes Gesundheitssystem nicht nur zivile Daseinsvorsorge ist, sondern auch Teil der nationalen Sicherheitsarchitektur. Doch wo sind die Konzepte, die diese Einsicht operationalisieren? Welche Infrastruktur wird benötigt, wenn die Versorgung von Verwundeten nicht mehr bloß ein Planspiel, sondern Realität wird? Wie viele Notfallkapazitäten halten wir eigentlich vor – und mit welchem Finanzierungsmodell? 

Gerade in Zeiten, in denen das Verteidigungsministerium über Milliarden an Sondervermögen verfügt, stellt sich die Frage, ob bestimmte Vorhalteleistungen des Gesundheitssektors nicht auch aus diesem Haushalt mitfinanziert werden sollten. Warum sollen Krankenhäuser oder Versorgungsstrukturen, die für Zivil- und Katastrophenschutz gleichermaßen vorgehalten werden, weiterhin ausschließlich durch die GKV querfinanziert werden? Wo endet Gesundheitsversorgung – und wo beginnt strategische Sicherheitsvorsorge? Es wäre an der Zeit, diese Fragen offen und ressortübergreifend zu stellen. Und damit nicht nur ein widerstandsfähiges System für Krisen zu schaffen, sondern auch die dauerhafte Überforderung der solidarischen Finanzierung in Friedenszeiten zu begrenzen.

Mit frischem Blick von außen

Mit Nina Warken übernimmt eine Juristin ohne direkten Hintergrund im Gesundheitswesen das Ressort – und das mag auf den ersten Blick irritieren. Doch bei genauerem Hinsehen könnte gerade darin eine Chance liegen. Als profilierte Innenpolitikerin, zuletzt Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums und langjährige Abgeordnete mit Reputation im Bereich Recht und Verfassung, bringt sie politische Verankerung, Verhandlungserfahrung und Führungserfahrung mit – drei Fähigkeiten, die man im Gesundheitsministerium dringend vorweisen sollte.

Gerade bei der Umgestaltung der Institutionen mit komplexen Rechtskonstrukten steckt darin eine große Chance. Denn was der Apparat nicht braucht, ist mehr Detailverliebtheit in Paragrafen – sondern strategisches Denken, Klartext und Konfliktfähigkeit. Und Warken hat gezeigt, dass sie sich in komplexen Themenstrukturen schnell zurechtfindet und klare Kante zeigen kann, wo andere lavieren. 

Dass sie mit Tino Sorge als Staatssekretär einen der profiliertesten Gesundheitspolitiker der Union an ihrer Seite hat, ist ein starkes Signal. Sorge kennt das System bis in seine regulatorischen Tiefenschichten, hat Reformideen nie gescheut – und kann Nina Warken nicht nur mit inhaltlicher Expertise, sondern auch mit dem nötigen Netzwerk in Szene setzen. Zusammen ergibt sich daraus eine Konstellation, die – wenn sie klug zusammenspielt – durchaus geeignet ist, frischen Wind in ein durchverwaltetes Ressort zu bringen. Nicht trotz, sondern gerade wegen der fachfremden Perspektive. Zumindest hat es beim scheidenden Gesundheitsminister wenig bis nichts geholfen, dass er mit den Institutionen sehr vertraut und den Akteuren bestens bekannt war. Seine Gesamtbilanz wird von der Fachcommunity weitgehend als ernüchternd bis mangelhaft eingestuft.

Die Sterne stehen günstig

Der Koalitionsvertrag markiert einen Fortschritt – nicht als revolutionäres Manifest, aber als realistisches Programm für ein besser steuerbares, tragfähiges Gesundheitswesen. Jetzt gilt es, nicht in ministerialer Betriebsamkeit zu verharren, sondern den angekündigten Wandel mit Haltung, Tempo und Konsequenz umzusetzen. 

Die große politische Frage lautet: Gelingt es, das System vom Patienten her zu denken – oder bleibt es erneut eine Übung in Verteilungskunst? Die Zeichen stehen günstig. Denn es ist Eile und politische Managementkompetenz geboten, um das Ruder für den Erhalt einer adäquaten Gesundheitsversorgung noch rumzureißen. Aber ob daraus ein echter Aufbruch wird, entscheidet sich nicht im Vertrag – sondern im politischen Alltag.

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