
Mit dem Rücken zur Wand stehen, sich in einer ausweglosen Situation befinden und einem Angreifer wehrlos ausgesetzt sein – das soll den Mitarbeitenden der DRK Kliniken Berlin möglichst nicht passieren. Doch am Klinikstandort Köpenick spielt sich in einem Raum im Keller genau dieses Worst-Case-Szenario ab. Ein Mann hat sich vor einer Frau aufgebaut, seine Hände sind um ihren Hals gelegt, jederzeit bereit, zuzudrücken. An Flucht ist jetzt nicht mehr zu denken. Plötzlich fährt ein weiteres Paar Hände dem Angreifer gezielt ins Gesicht, drückt auf dessen Augen und Nase, sein Kopf wird nach hinten geruckt. Nur Sekunden später verliert der Mann sein Gleichgewicht und geht zu Boden.
Sieben Personen haben sich im Halbkreis zusammengefunden und beobachten interessiert, wie Danièl Lautenschlag anscheinend mühelos die Situation unter Kontrolle bringt. Lautenschlag ist Selbstverteidigungsausbilder. In nachgestellten Übergriffen, wie sie tatsächlich auch in einem Krankenhaus stattfinden könnten, demonstriert er, wie man sich selbst, aber auch seine Kolleginnen und Kollegen am besten schützt.
Uns hat der Gedanke eines körperlichen Deeskalationstrainings zunächst irritiert. Doch unsere Mitarbeitenden sind längst mit Gewalt konfrontiert.
Seit September vergangenen Jahres ist er als Deeskalationsexperte für die DRK Kliniken Berlin im Einsatz. An allen Standorten finden seitdem einmal monatlich für drei Stunden seine Trainingseinheiten statt, während der Arbeitszeit. Im Laufe eines Jahres sollen gut 200 Mitarbeitende und Auszubildende nun lernen, souverän mit Aggression und Gewalt in ihrem Arbeitsalltag umzugehen – damit ist der Unternehmensverbund das erste Gesundheitsunternehmen, das ein Deeskalationstraining in solch einem Umfang anbietet. Denn tatsächlich ist Gewalt in Kliniken ein Thema, das an Bedeutung gewinnt. Vor allem in Rettungsstellen und Psychiatrien kommt es immer häufiger zu verbalen und körperlichen Übergriffen auf Mitarbeitende. Das wird vermehrt auch in Pädiatrien so wahrgenommen, wo die Aggression von besorgten und aufgebrachten Eltern ausgeht. Bereits vor fünf Jahren wurde deshalb ein Deeskalationsmanagement im Unternehmensverbund aufgebaut, um die Situation zu entspannen.
Einblick in das Training mit Danièl Lautenschlag
Verbale Deeskalation allein reicht nicht
Zum erarbeiteten und etablierten Konzept gehört unter anderem ein verbales Deeskalationstraining. Teilnehmende werden darin geschult, sich anbahnende Konflikte rechtzeitig zu erkennen und diese im Keim zu ersticken – oder bereits bestehende aggressive Zwischenfälle durch Empathie und zugewandte Kommunikation zu beruhigen. Das Deeskalationsmanagement als Teil des Betrieblichen Gesundheitsmanagements wird als Erfolg verbucht, die Maßnahmen sind etabliert und werden von den Mitarbeitenden gut in Anspruch genommen. Dennoch stößt die verbale Deeskalation im Klinikalltag an ihre Grenzen – immer dann, wenn Menschen nicht mehr kommunizieren wollen oder können.
„Wir mussten erkennen, dass unser bisheriges Deeskalationsangebot nicht mehr ausreicht. Weil es eben zunehmend zu körperlichen Übergriffen kommt“, sagt Dr. Christian Friese, Vorsitzender der Geschäftsführung der DRK Kliniken Berlin. „Uns hat der Gedanke eines körperlichen Deeskalationstrainings zunächst irritiert. Doch unsere Mitarbeitenden sind längst mit Gewalt konfrontiert – nicht in der Theorie, sondern im Arbeitsalltag. Davor die Augen zu verschließen, hielten wir nicht für adäquat“, so Friese. Die Entscheidung, das Deeskalationskonzept um ein Selbstschutztraining zu ergänzen, wurde dann auch von den Mitarbeitenden gut aufgenommen. Die Kursplätze waren schnell vergeben.
Es ist ja nicht so, dass man sich an die Wand schlagen lässt, kurz bewusstlos wird und das einfach so wegsteckt. Das macht etwas mit einem.
Grit Hübschmann ist Internistin und Oberärztin in der Notaufnahme in Köpenick. Als Assistenzärztin musste sie vor Jahren selbst einen tätlichen Angriff erleben. „Es ist einfach eine Tatsache, dass man manchmal in gewisser Hilflosigkeit in Situationen gekommen ist, in denen man Schaden genommen hat. Das nimmt man dann mit nach Hause. Es ist ja nicht so, dass man sich an die Wand schlagen lässt, kurz bewusstlos wird und das einfach so wegsteckt. Das macht etwas mit einem. Ich möchte diese Situation nicht noch einmal so erleben und möchte etwas dagegenhalten können“, beschreibt sie ihre Entscheidung für die Kursteilnahme.
Auch Mathias Schmidt, intensivpflegerischer Leiter in der Notaufnahme der DRK Kliniken Berlin Köpenick, musste nicht lange überlegen, sich für den Kurs einzuschreiben: „Ich habe vor ein paar Jahren schon einmal ein verbales Deeskalationstraining gemacht. Das Problem: Es hilft nicht mehr in jeder Situation. Früher hat es gereicht, laut ‚Halt’ oder ‚Stopp’ zu sagen. Heute sind die Leute aggressiver und übergriffiger.“ Kurz bevor das Training angeboten wurde, erlebte er zudem einen Zwischenfall in der Rettungsstelle: Eine intoxikierte Person war von der Feuerwehrtrage gesprungen und hatte das Krankenhauspersonal angegriffen. Schmidt wollte in Zukunft besser auf vergleichbare Situationen vorbereitet sein und entsprechende Selbstschutztechniken lernen.
Die meisten Angriffe gehen von Männern aus
Im Trainingsraum geht es mittlerweile zur Sache. Nicht nur Mathias Schmidt wendet beherzt die von Danièl Lautenschlag gezeigte Methode an, um sein Gegenüber zu Fall zu bringen. An jeder Ecke des Raumes wird in Zweierteams geübt, sich so schnell wie möglich aus einer brenzligen Situation zu befreien. Es landen Hände energisch im Gesicht, eine Frau beugt sich besorgt über einen auf dem Boden liegenden Mann. „Auf’s Auge gehen“, rät Danièl Lautenschlag einem Kursteilnehmer, damit dieser seinen Teampartner überwältigen kann.
Das Training wirkt teilweise brutal. Und doch ist die Stimmung im Raum gelöst, alle sind engagiert bei den Übungen, immer wieder ist ein Lachen zu hören. „Das ist der humanste Weg, den es gibt. Wir alle haben die Griffe die ganze Zeit geübt und keiner hat auch nur einen Kratzer. Das, was hier so schlimm aussieht, ist in Wahrheit das mildeste Mittel für eine körperliche Deeskalation“, sagt Lautenschlag. Auch, wenn es durchaus mal schmerzhaft sei, was im Training passiere – die physische und psychische Unversehrtheit aller Beteiligten steht bei seinen Methoden im Vordergrund.
Das, was hier so schlimm aussieht, ist in Wahrheit das mildeste Mittel für eine körperliche Deeskalation.
Sein Selbstschutzsystem – so nennt Lautenschlag sein Deeskalationstraining – soll einen aggressiven Menschen daran hindern, körperliche Gewalt wie Würgen oder Schubsen auszuüben. Das wird unter anderem durch Griffe erreicht, die ihm kurzzeitig Schmerz, aber keine Verletzungen zufügen. Die angreifende Person wird dadurch abgelenkt: Statt sich weiter auf den Angriff und sein Opfer zu konzentrieren, wandert der Fokus auf den eigenen Schmerz. Dieser kurze Augenblick der Unachtsamkeit kann dazu genutzt werden, einen Selbstverteidigungsgriff anzuwenden und den Angreifer zum Beispiel zu fixieren.
Das ist ein effektives Mittel, um unabhängig von Körpergröße, Gewicht, Geschlecht oder Alter einen Angriff zu beenden. Gerade im Gesundheitswesen, wo viele Frauen arbeiten, ist das ein wichtiger Aspekt. Denn die meisten Angriffe gehen von Männern aus, die ihnen körperlich überlegen sind. Wie zum Beweis wird ein paar Minuten später gejohlt: Die zierlichste Frau im Training lenkt den größten Mann kontrolliert zu Boden.
Mehr zum Anti-Gewalt-Trainer lesen sie auch im Interview: Was macht Deeskalation im Klinikum aus, Herr Lautenschlag?
Wiederholungen machen Wissen abrufbar
Als Lautenschlag die nächste Technik erklären will, bleibt er mitten im Satz stecken: „Wenn ich als…“ Nur widerwillig scheint ihm das Wort „Opfer“ über die Lippen zu kommen. „Das fällt mir so schwer, das zu sagen“, schiebt er entschuldigend hinterher, wofür er reihum Lacher erntet. Als ehemaliger Kampfsportler kann er sich nicht mit dieser Rolle identifizieren. Und darum geht es eigentlich auch in seinen Trainingseinheiten: sich nicht in eine Opferrolle drängen zu lassen, handlungsfähig zu bleiben und sich auch in einer schwierigen Situation behaupten zu können. Dafür lehrt Danièl Lautenschlag das Handwerkliche der Selbstverteidigung. Und das braucht vor allem eins: viele Wiederholungen. Nur so können die Teilnehmenden die Abläufe der verschiedenen Griffe und die Idee hinter seinem Konzept verinnerlichen. Denn letztlich geht es auch in seinem körperlichen Deeskalationstraining darum,eine physische Auseinandersetzung möglichst zu verhindern und Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff rechtzeitig zu erkennen.

Sein Konzept scheint aufzugehen. Berührungsängste bei den Kursteilnehmenden sind nicht zu spüren, vom Training sind sie überzeugt. „Bestimmte Griffe lassen sich gut im Klinikalltag anwenden. Damit lässt sich eine Person mit ganz wenig Kraft führen und man fügt in einem Moment nur so viel Schmerz zu, dass sie von ihren Intentionen ablässt und wir ihr dann doch noch helfen können oder sie auch aus der Rettungsstelle führen können“, urteilt Grit Hübschmann. Die Bereitschaft, das Gelernte im Training und perspektivisch tatsächlich im Ernstfall anzuwenden, ist vorhanden – auch wenn dafür eine gewisse Überwindung notwendig ist.
„In unserer Berufsgruppe, als medizinisches Personal, ist das schon ein wenig komisch – wir wollen Menschen helfen. Aber manchmal kommt es zu solchen Situationen, in denen wir selbst Hilfe brauchen, weil wir angegriffen werden“, sagt Mathias Schmidt. Er hat sein neues Wissen sogar schon eingesetzt: Eine Kollegin hatte etwas am Computer geschrieben, saß mit dem Rücken zum Patienten und wurde dann von diesem attackiert. „Ich konnte den Patienten von ihr wegziehen und ihn einfach aus der Rettungsstelle hinausbegleiten. Mit einem der Griffe, die wir hier üben. Das verinnerlicht man, je öfter man das macht. Es ist schon so, dass man sich dadurch in manchen Situationen einfach sicherer fühlt“, so Schmidt.
Sicherheitsgefühl steigt
Er ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Mit der Einführung des körperlichen Deeskalationstrainings wurde eine Evaluation zur Wirksamkeit der Maßnahme durchgeführt. Das Ergebnis fiel so positiv aus, dass der Klinikverbund das Deeskalationstraining vorzeitig verlängerte – obwohl kein Cent für das Training refinanziert wird, was gerade in Zeiten knapper Kassen eine finanzielle Herausforderung ist: Hatten vor Beginn des Trainings rund 40 Prozent der Befragten ein eher geringeres Sicherheitsgefühl, gaben das nach einem halben Jahr nur noch sieben Prozent an. Somit stieg der Anteil der Beschäftigten, die ein hohes Sicherheitsempfinden haben, von 60 auf 93 Prozent. Die Selbsteinschätzung, in einer bedrohlichen Situation kompetent handeln zu können, stieg im Verlauf des Trainings von 27 auf 92 Prozent. Bezogen auf körperlich bedrohliche Situationen fühlten sich vor Trainingsbeginn nur 12 Prozent der Beschäftigten handlungssicher, im Frühjahr waren es bereits 80 Prozent.
Früher hat es gereicht, laut ‚Halt‘ oder ‚Stopp‘ zu sagen. Heute sind die Leute aggressiver und übergriffiger.
Damit wurde das Ziel der Maßnahme mehr als erfüllt. „Es geht hier nicht um einen Selbstverteidigungskurs, sondern darum, sich konkret den Situationen, die bei uns regelmäßig vorkommen, stellen zu können und dafür gewappnet zu sein. Auch beim körperlichen Deeskalationsmanagement ist es nur als Ultima Ratio gedacht, selbst körperlich zu werden. Vor allen Dingen geht es darum, das Bewusstsein zu erlangen, der Situation gewachsen zu sein“, sagt Christian Friese.
Gegenwind ja, aber nicht aus dem eigenen Haus
Trotzdem gab es auch kritische Stimmen, als über das Deeskalationstraining berichtet wurde – wenn auch nicht aus dem eigenen Haus. Der Vorwurf lautete in etwa, dass man die Mitarbeitenden mit pöbelnden Randalierern alleinlasse statt sie von Sicherheitsdiensten als Profis im Umgang mit Gewalt schützen zu lassen. „Das ist ein großes Missverständnis. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befähigen“, erklärt Friese. Allein schon, weil man Gewaltsituationen nie ausschließen könne, da es sich bei Krankenhäusern um öffentliche Einrichtungen handele. Eine Abschottung sei logistisch nicht möglich. Und auch der Sicherheitsdienst biete keine Garantie, zum Zeitpunkt der Bedrohungssituation am richtigen Ort zu sein.
Wurde Gewalt im Krankenhaus und die Suche nach geeigneten Präventionsmaßnahmen vor ein paar Jahren noch als ein unangenehmes Thema, vielleicht sogar als Makel wahrgenommen, stellt Deeskalationstrainer Danièl Lautenschlag nun ein Umdenken fest. Ein Großteil seiner Klientel kommt mittlerweile aus dem Gesundheitswesen und die Nachfrage steige stetig, auch über Berlin hinaus. „Mittlerweile gibt es bei dem Thema ein offensiveres Vorgehen. Es hat auch etwas mit Wertschätzung gegenüber seinen Mitarbeitern zu tun. Denn die Mitarbeiter erleben die Gewalt und sind dankbar, dass man etwas dagegen unternimmt“, sagt Lautenschlag.








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