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Thies vs. DehneVision oder Brandbeschleuniger – Ein Streitgespräch über die 35-Stunden-Woche

David-Ruben Thies schwört auf die 35-Stunden-Woche. Nils Dehne sieht darin ein finanzielles Abenteuer. Ein Streitgespräch zwischen einem Klinikchef und einem Verbandsvertreter darüber, wie neue Arbeitszeitmodelle das Personalproblem in Krankenhäusern lösen können.

Zeit
Kirill Makarov/stock.adobe.com
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Der eine hat in seinem kommunalen Krankenhaus in Thüringen vor kurzem einen vieldiskutierten Tarifvertrag samt 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich abgeschlossen. Der andere vertritt die Interessen von 27 kommunalen Großkrankenhäusern und warnt vor pauschalen Lösungsansätzen für die gesamte Kliniklandschaft. Für kma diskutieren David-Ruben Thies, Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg, und Nils Dehne, Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser (AKG), über Arbeitgeberattraktivität, kreativen Wettkampf der Kliniken um das Personal und den Mut in den Führungsetagen, neue Wege zu gehen.

Herr Thies, wie groß war der Shitstorm unter Ihren Geschäftsführerkollegen in den Krankenhäusern, als diese von Ihrem Tarifvertrag erfahren haben?

David-Ruben Thies: Beschimpft hat mich niemand, nicht einmal auf Social Media. Spürbar war jedoch die Missachtung auf Kongressen. Warum, darüber kann ich nur spekulieren.

Der Tarifvertrag wurde Anfang Juli unterschrieben und gilt nicht nur für alle Beschäftigtengruppen des Konzerns, sondern auch für die ambulanten MVZ und die Service GmbH. Hat er Ihnen schon neue Beschäftigte beschert?

Thies: Wir spüren die Auswirkungen bereits. Die Zugriffszahlen auf unserem Karriereportal haben um knapp 80 Prozent zugenommen. Es gehen mehr Bewerbungen ein, wir führen entschieden mehr Gespräche. Insbesondere das Recruiting für unsere Rehaklinik, die wir im Frühjahr 2024 eröffnen, ist herausragend gut gelaufen. Nach eineinhalb Monaten mit unserem neuen Haustarifvertrag sind nahezu alle 120 Stellen tatsächlich besetzt – in Zeiten von Fachkräftemangel. Zudem zählt Eisenberg hier in Thüringen nicht zu den traumhaften Standorten dieser Welt. Die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter kommt aus der Region, aber wir haben überraschenderweise auch zirka zehn Beschäftigte gewinnen können, die aus den letzten Winkeln der Republik zu uns gekommen sind.

David-Ruben Thies ist Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg in Thüringen.

Wie setzen Sie den neuen Tarifvertrag in den etablierten Schichtbetriebssystemen um?

Thies: Das ist tatsächlich eine spannende Frage, an deren Klärung arbeiten wir gerade. Der neue Tarifvertrag muss in Form von Betriebsvereinbarungen – etwa zu Arbeitszeit und Urlaubsplanung – umgesetzt werden. Natürlich versuchen wir, dabei sehr kreativ vorzugehen und für jede Berufsgruppe zu simulieren und abzuwägen, wie die Auswirkungen sind. Nur: Selbst, wenn ich persönlich davon überzeugt sein sollte, dass die Vier-Tage-Woche oder flexible Tagesarbeitszeiten gute Modelle sind, heißt das nicht automatisch, dass meine Belegschaft das ebenfalls toll findet. Insofern tasten wir uns derzeit an die nächsten Schritte vorsichtig heran, etwa bei der Personaleinsatzplanung.

Dehne: Nach welchen Organisationseinheiten strukturieren Sie? Nach Abteilung, Station, ganzes Haus?

Thies: Ich gucke immer als Erstes auf den Patienten. Mir ist egal, wann der Patient wo in welcher Abteilung oder hausinternen Struktur hängt. Mich interessiert sein Weg, seine Bedürfnisse. Daran orientiert sich der weitere Ablauf. Wann kommt der Patient? Welches Personal brauche ich wann, wo und mit welcher Qualifikation? Wir gucken hier immer nur auf die Patient Journey, daran orientiert sich unser Modell.

Dehne: Das ist das eigentlich Innovative an der Sache. Wenn man das konsequent auf das gesamte Gesundheitswesen übertragen würde, müssten wir längst nicht mehr über Standorte, Institutionen oder Türschilder reden, sondern uns viel stärker die Frage stellen, zu welcher Zeit, an welchem Ort welches Personal mit welchen Patienten sinnvoll zusammengeführt werden muss. Das halte ich für absolut zukunftsweisend.

Nils Dehne ist Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser (AKG).

Der Tarifvertrag gilt nur für Verdi-Mitglieder. Doch Verdi ist in der Klinikbranche gering organisiert. Wie kann der Vertrag erfolgreich umgesetzt werden?

Thies: Ich bin wahrscheinlich binnen kürzester Zeit ein sehr erfolgreicher Anwerber für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft geworden. Natürlich haben wir in der Übergangszeit ein bisschen mehr Arbeit. Genaue Zahlen kenne ich nicht, aber vor der Tarifeinigung waren wahrscheinlich weniger als 20 Prozent der Belegschaft bei uns gewerkschaftlich organisiert. Mittlerweile dürfte diese Quote bei mehr als 60 Prozent liegen, obwohl wir den Tarifvertrag erst seit Anfang Juli haben.

Herr Dehne können es sich Kliniken überhaupt noch leisten, einen solchen Tarifvertrag nicht zu haben?

Dehne: Der Erfolg und die Reichweite geben Herrn Thies recht. Natürlich stecken dahinter Organisationsstrukturen und Versorgungskonzepte, die beispielhaft und zukunftsträchtig sind. Das Problem ist jedoch, inwieweit das übertragbar ist auf unser gesamtes Land.

Kann das Eisenberger Modell nicht in allen Krankenhäusern funktionieren?

Dehne: Im Hinblick auf die pflegerische Versorgung entsteht ein Wettbewerb, möglichst attraktive Tarifverträge abzuschließen. In der Folge kommt es so auch zu einem Wettbewerb um die individuell gefühlte höchste Arbeitsplatzattraktivität. Allerdings ist diese selten kompatibel mit dem tatsächlichen Versorgungsbedarf, den wir flächendeckend sicherstellen müssen. Dabei geht es gar nicht um den betriebswirtschaftlichen Wettbewerb, sondern um die Verteilung der knappen Fachkräfte, die sinnvoll eingesetzt werden müssen.

Die Waldkliniken Eisenberg in Thüringen und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi haben in diesem Sommer einen Tarifvertrag geschlossen, der Pilotcharakter für die gesamte Krankenhausbranche haben könnte. Der Tarifvertrag trat zum 1. Juli in Kraft und sieht bis 2028 die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich vor. Das Tarifwerk gilt für alle Beschäftigten der Waldkliniken Eisenberg, der Rudolf-Elle-Service-GmbH und der Meine Polikliniken GmbH, also nicht nur für den Pflegedienst. Allerdings gilt er nur für Verdi-Mitglieder unter den Beschäftigten.

Der Eisenberger Tarif bietet ganz unterschiedliche Arbeitszeitoptionen, die Mitarbeitenden können darüber frei entscheiden. So sieht der Tarifvertrag ein Lebensarbeitszeitkonto vor. Auf dieses können Arbeitskräfte einzahlen, wenn sie freiwillig bei der 40-Stunden-Woche bleiben. Im Resultat können sie so entweder früher in Rente gehen oder für ein bezahltes Sabbatical Zeit ansparen. Zudem fallen zahlreiche andere Details auf. So bietet der Vertrag unter anderem die Möglichkeit der Entgeltumwandlung in eine Sachleistung, wodurch Steuern und Sozialabgaben gespart werden können, es gibt mehr Urlaub (31 Tage bei Fünf-Tage-Woche), Nachtzulagen bereits ab 20 Uhr sowie eine schrittweise Anpassung der Löhne an das TVöD-Niveau. (dsg)

Herr Thies schmunzelt ein bisschen. Heißt das, man darf sich nicht als guter Arbeitgeber präsentieren, weil das im Personalwettbewerb übers gesamte Land gesehen zu Unwuchten führen würde?

Dehne: Das ist eine völlig berechtigte Frage. Wir reden auf der einen Seite davon, flächendeckend die Versorgung sicherstellen zu wollen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass wir nicht genug Fachkräfte haben, um die bestehenden Strukturen, so wie sie heute sind, alle weiter am Leben zu erhalten. Jetzt kann man darüber streiten, ob die individuelle Arbeitsplatzattraktivität der richtige Allokationsmechanismus ist. Etwa in der Pflege, um dort Pflegekräfte über unser Land zu verteilen, wie die das eben besonders motiviert – und nicht, wie das in der Versorgung ankommt.

Was ist daran falsch?

Dehne: Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Durch die Pflegepersonaluntergrenzen ist eine orthopädische Sportklinik, wie es sie in unserem Land durchaus in einer nennenswerten Anzahl gibt, genauso zu behandeln wie eine Orthopädie in einem Maximalversorger in einer Großstadt im Ruhrgebiet. Und dies, obwohl ein unterschiedlicher Pflegeaufwand und unterschiedliche Arbeitsbelastung existieren. Betriebswirtschaftlich werden beide Bereiche gleichbehandelt und gleichvergütet, über das Pflegebudget. Das führt zu Fehlallokationen, die mit den Versorgungsbedarfen nichts zu tun haben.

Gibt es unter Kliniken nicht längst einen Wettbewerb um Fachkräfte?

Thies: Natürlich haben wir schon lange einen scharfen Wettbewerb. Selbst die Uniklinik Jena hängt – obwohl sie unsere Mitgesellschafterin ist – in meinem Krankenhaus Zettel aus und fragt: Wollt ihr nicht bei uns arbeiten? Den scharfen Wettbewerb muss man nicht erfinden, er ist längst da. Nicht nur um die besten Köpfe, sondern um überhaupt erst einmal in die Lage zu kommen, unbesetzte Stellen wieder auffüllen zu können. Als Krankenhaus habe ich in dieser Situation zwei Möglichkeiten: Man wartet ab, bis die Politik irgendwas erledigt. Oder man entscheidet selbst. Das meint die Antwort auf die Frage, wie man Tausende von Pflegefachkräften, die ihren Job verlassen haben, wieder zurückholt. Was müssen wir dafür tun? Die Antwort ist nicht schwer, denn es gibt dazu eine gute Studienlage. Deren Quintessenz lautet: Wir müssen Bedingungen schaffen, dass diese Menschen wieder Lust haben, als Pflegefachkraft zu arbeiten.

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Was tun Sie dafür konkret, Herr Thies?

Thies: Die 35-Stunden-Woche laut Tarifvertrag ist nur ein Bestandteil. Es kommen viele weitere wichtige Themen hinzu, etwa New Work, anderes Arbeitsmanagement, bessere Arbeitsabläufe und vieles mehr.

Dehne: Ich finde das großartig und beispielhaft. Auch die Botschaft, selbst zu gestalten und nicht auf den guten Diktator zu warten, ist zeitgemäß. Nur haben wir aktuell parallele Debatten über unsere Krankenhausstrukturen und den Reformbedarf. Die zentrale Botschaft, die ich damit verbinde, ist, dass jeder seinen Weg finden muss, damit umzugehen. Es gibt für Krankenhäuser völlig unterschiedliche Herausforderungen, je nach Standort, Lage, Region usw. Wenn wir parallel über den kalten Strukturwandel reden, muss uns bewusst sein, dass die Arbeitsplatzattraktivität in einem stark vom Elektivgeschäft geprägten Versorgungskrankenhaus auf dem Land eine andere ist als in einem Krankenhaus in der Großstadt mit einem stark durch Notfallversorgung geprägten Geschäft.

Ich behaupte, dass das Notfallgeschäft einfacher zu handeln ist das als das Elektivgeschäft.

Deshalb belassen wir alles so wie es ist?

Dehne: Nein, das sage ich nicht. Die eigentliche Herausforderung für ein Krankenhaus ist, sich auf die Versorgungsrolle, auch mit der Arbeitsplatz- und mit der Organisationsstruktur, maximal hin auszurichten. Herr Thies macht das für seinen Fall hervorragend. Nur ist es schwierig, wenn man in einem kollektiven System, wo Krankenhaus gleich Krankenhaus ist, gefangen ist und mit gewissen Dingen nicht punkten kann. Notfallversorgung verändert ein Krankenhaus auf vielen Ebenen, es sind andere Schwerpunkte gefordert als eben in einem Krankenhaus, das ich maximal auf das Elektivgeschäft ausrichten kann. Die Versorgungspfade für Patienten im Elektivgeschäft und im Notfallgeschäft sind grundverschieden. Das ist der Grund, warum wir zu gewissen Jahreszeiten volle Notaufnahme haben, obwohl unsere Krankenhäuser weit weg von einer 100-prozentigen Auslastung sind. Und in dem Vergütungssystem, in dem wir uns heute bewegen, muss jedes Krankenhaus, das Notfallgeschäft macht, auch konsequent Elektivgeschäft machen, weil es sonst kaum tragfähig zu finanzieren und zu führen ist. Das ist genau ein Teil des Problems. Weil ich immer die gleichen finanziellen Anreize habe, aber unterschiedliche prozessuale Herausforderungen.

Thies: Einspruch. Auch wir sind gute Regelversorger, wir haben ebenfalls eine Notaufnahme.  Wenn Sie ein zentrales Ressourcen- und Kapazitätsmanagement haben und prädiktiv arbeiten, wie wir es bei uns mittlerweile tun, dann ist für mich der Notfall auf den Tag und die Stunde genau besser hervorsehbar als jeder elektive Patient. Das versteht nur keiner, deswegen laufe ich ja immer durch die Lande und versuche, das jedem beizubringen. Wir haben es selbst in den Niederlanden gelernt. Ich behaupte, dass das Notfallgeschäft einfacher zu handeln ist das als das Elektivgeschäft. Und ich erinnere gerne daran, dass die Orthopädie seit vielen Jahren einen negativen Katalogeffekt hat. Das heißt, bei steigenden Kosten sinken in der Orthopädie seit vielen Jahren die Erlöse. Selbst wenn ich als Klinik ein Maximalversorger wäre, würde ich diesen Weg genauso einschlagen. Warum? Weil ich am Ende Menschen brauche, die den Job machen, gerade um die Versorgungssituation sicherzustellen. Gerade in Vorbereitung auf die große Krankenhausreform muss ich doch als nur einer von vielen Leistungsanbietern beweisen, dass wir es können.

Ich sehe es als Chance und als Flucht nach vorn.

Die Verkürzung der Arbeitszeit bedeutet mehr Personal für den gleichen Versorgungsaufwand. Wie bezahlen Sie die Mehrkosten?

Thies: Zunächst einmal sollte sich der Blick von der reinen Klinikbetrachtung lösen. Wir denken im Konzernmaßstab und haben alles mit einbezogen. Es gibt nun einen einheitlichen tariflichen Rahmen für alle, inklusive der Servicegesellschaft und unserer MVZ-Struktur. Bislang gab es unterschiedliche Tarifwerke, die alle mit einem gewissen Aufwand koordiniert werden mussten. Durch den Konzernansatz können wir einfacher disponieren. Wir bieten unterschiedliche Modelle an, um die Arbeitszeit zu organisieren, die Mitarbeiter haben die Wahl. Es gibt zum Beispiel ein Lebensarbeitszeitkonto, wo der Mitarbeiter freiwillig entscheiden kann, weiter 40 Stunden pro Woche zu arbeiten. Er kann damit sein Lebensarbeitszeitkonto auffüllen, um früher in Rente zu gehen. Oder für ein bezahltes Sabbatical. Das eigentliche Kernthema unseres Tarifvertrages ist nicht die 35-Stunden-Woche per se, sondern die individuelle und intelligente Steuerung der Arbeitszeit durch die Mitarbeitenden. Solche Arbeitszeitmodelle sind viel spannender als die reine Einführung der 35-Stunden-Woche, denn sie erhöhen die Produktivität.

Nochmal nachgehakt: Wie viel Personal müssen Sie zusätzlich aufbauen?

Thies: Es ist richtig, der Tarifvertrag kostet uns zunächst mehr. Konkret benötigen wir rund 70 Stellen mehr. Verkürztes tägliches Arbeiten führt aber zu weniger Krankheit und damit zu einer Steigerung unserer Produktivität. Dass das aufgeht, beweisen uns tatsächlich andere Länder. Ich sehe es als Chance und als Flucht nach vorn. Zufriedene Mitarbeiter sind motivierter, ihre Leistung ist höher. Wie hoch ist inzwischen zum Beispiel die durchschnittliche Krankheitsquote bei der Pflege?

Vor allen Dingen werden die Krankenhäuser profitieren, die sich heute noch eine mutige Investition in die Zukunft leisten können.

Je nach aktueller Erhebung der Kassen liegt die durchschnittliche Quote zwischen 8,5 und neun Prozent – deutlich höher als in anderen Berufsgruppen.

Thies: Es gibt Krankenhäuser, in denen liegt die Quote längst deutlich höher, teilweise bei 20, 22 Prozent. Wenn Ihre Arbeitsbedingungen besser und Ihre Mitarbeitenden zufriedener sind, sinkt die Krankenquote deutlich. Hinzu kommt: Wenn die Arbeitsbedingungen belastend sind, lässt die Konzentration schneller nach und es kommt zu mehr Fehlern. Diese Fehler bescheren mir als Unternehmen mehr Aufwand und damit höhere Kosten.

Herr Dehne, glauben Sie, dass sich diese Investition auf die Zukunft rechnet?

Dehne: Also ich glaube Herrn Thies, dass er das hinkriegt. Ich glaube aber auch, dass es mit zunehmender Größe und Komplexität für das eine oder andere Krankenhaus eine größere Herausforderung ist. Gerade zu einem Zeitpunkt, an dem sich entscheiden wird, wer in Zukunft die Krankenhausversorgung leisten wird – und wer nicht. Man muss also Mut und eine Trägerschaft hinter sich haben, die das mitträgt und bereit ist, das Risiko in Kauf zu nehmen. Das gilt heutzutage nicht mehr für alle Krankenhäuser in Deutschland. Die wirtschaftliche Situation ist schon so brenzlig, dass der Mut und die Fähigkeiten für weitere Investments oder weiteres Risiko nicht vorhanden sind. Ferner setzen tarifvertragliche Strukturen einen Konsens voraus, etwa bei den kommunalen Arbeitgeberverbänden. Es ist unwahrscheinlich, dass diese einen breiten Konsens darüber finden, sich ausgerechnet jetzt so eine Zukunftsinvestition in gutes Personal leisten zu können. Die Konsequenz wäre, dass sich mehr Krankenhäuser allein auf den Weg machen und es zu erheblichen Ausdifferenzierungen aus dem bisherigen kollektiven System kommt. Vor allen Dingen werden die Krankenhäuser profitieren, die sich heute noch eine mutige Investition in die Zukunft leisten können.

In diesem Setting können die klassischen Instrumente wie eben flächendeckende Tarifverträge im Einzelfall im Weg stehen.

Ist der Tarifvertrag damit der Brandbeschleuniger eines kalten Strukturwandels, von dem Sie in einer ersten Reaktion gesprochen haben?

Dehne: Es sind Kriterien für den Strukturwandel, die nichts mit unserer Versorgungssicherheit oder mit unserem Versorgungsbedarf zu tun haben. Das ist die Botschaft dahinter.

Thies: Der wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Zahl von Insolvenzen passieren jetzt schon, ganz ohne besonderen Tarifvertrag. Eine Heterogenität von Tarifverträgen haben wir ebenfalls schon lange. In den neuen Bundesländern, in denen ich tätig bin, ist die Mehrheit der Häuser überhaupt nicht mehr tarifgebunden, weil sie sich das seit Jahrzehnten gar nicht mehr leisten konnten. Unser Tarifvertrag produziert doch nicht nur Mehrkosten. Im Gegenteil: Als intelligenter Tarifvertrag ermöglicht er es mir, ausgesourcte Elemente wie zum Beispiel eine Servicegesellschaft wieder in den Konzern zurückzuholen und Mitarbeitenden dort nicht länger das Gefühl zu vermitteln, Menschen zweiter Klasse zu sein. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Wenn ich versucht hätte, einen Tarifvertrag als VKA Ost zu machen, wäre mir das nicht gelungen. Die Einkommensgruppierungs- und Strukturvorgaben, die dort geregelt sind, würden mich finanziell von einem Tag auf den nächsten einfach umbringen. Deshalb werbe ich für eigene Wege – und die Gewerkschaften sind bereit, kreative neue Wege mitzugehen.

Dehne: Ich finde den Appell großartig, den nehme ich sehr gerne mit. Die zentrale Herausforderung ist eine immer stärker ausdifferenzierte und spezialisierte Versorgung. In diesem Setting können die klassischen Instrumente wie eben flächendeckende Tarifverträge im Einzelfall im Weg stehen. Wenn wir das Bewusstsein dafür schaffen, dann glaube ich daran, dass wir zwischen den Tarifpartnern wieder differenzierte Modelle aufbauen können.

Das Klinikum Bielefeld zählt mit seinem Pilotprojekt für eine Vier-Tage-Woche für Pflegekräfte zu einem der Pioniere neuer Arbeitszeitmodelle in der Pflege. Nach diesem Modell wird die tarifliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden pro Woche nicht verändert, nun aber von fünf auf vier Arbeitstage in der Woche verdichtet. Es gilt zudem zunächst nur für Pflegekräfte und selbst dort noch nicht für alle Bereiche. Auch andere Kliniken haben inzwischen vergleichbare Modelle der Vier-Tage-Woche ohne Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit eingeführt.

Dazu zählte zunächst auch das Krankenhaus Bethanien im nordrhein-westfälischen Moers, wo ebenfalls am 1. Juli auf einer Palliativstation ein Arbeitszeitmodell nach dem Bielefelder Vorbild gestartet worden war. Das dortige Projekt wurde laut Medienberichten jedoch bereits wieder beendet. Demnach hätten die verlängerten täglichen Dienstzeiten zu Schwierigkeiten im Privatleben und einer hohen Erschöpfung des Pflegepersonals geführt. Bei Pflegeverbänden und vielen Pflegefachkräften stößt daher das „Bielefelder Modell“ auf viel Kritik. Sie fordern eine „echte“ Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. (dsg)

Sie haben das sogenannte Bielefelder Modell als gutes Beispiel für ein neues Arbeitszeitmodell gelobt, das wirtschaftlich tragfähig sei. Pflegefachkräfte und Pflegeverbände sprechen jedoch von einer Mogelpackung. Inzwischen rudern die ersten Träger wieder zurück. Müssen Klinikentscheider nicht wie Herr Thies radikaler umdenken?

Dehne: Unbedingt, definitiv. Ich will das Modell der Vier-Tage-Woche mit 40 wöchentlichen Arbeitsstunden in Bielefeld gar nicht übermäßig rausheben. Es ist im Vergleich zu Herrn Thies nur ein deutlich bescheidenerer oder vorsichtigerer Versuch, neue Modelle zu erproben und auszuprobieren. Für mich ist das in jedem Fall der richtige Weg. Jeder muss das so machen, wie er es sich gerade leisten kann, um seine finanzielle Tragfähigkeit nicht zu gefährden. Mutiger geht immer, nur hängt das von der individuellen betriebswirtschaftlichen Situation und dem Träger ab.  

Thies: Die Träger haben damit gar nicht viel zu tun…

Warum nicht?

Thies: Es ist eine rein betriebswirtschaftliche Entscheidung. Da bestimmen Träger selten mit.

Dehne: Wir haben in den letzten Jahren eine starke Vermischung von politischen Bestrebungen mit der betriebswirtschaftlichen Ebene. Allein wenn man sich das Thema Wiedereingliederung von Servicegesellschaften anguckt. Da werden inzwischen regelmäßig in Koalitionsverträgen Dinge durchgedrückt, bei denen nicht immer die systematische Refinanzierung oder der betriebswirtschaftliche Nutzen gesichert ist.

Wir sprechen über eine große Vision für ein geiles deutsches Gesundheitswesen.

Herr Thies, sind Ihre Kollegen bereit für einen kreativen Wettkampf?

Thies: Diese Beurteilung steht mir nicht zu. Ich kann immer nur positive Beispiele geben und sagen: Guckt mal, so geht es auch. Niemand muss es so machen wie wir. Nur fehlt mir oft der kreative Ideenwettbewerb, der positive Ansatz, es mal ganz anders machen zu wollen und Neues auszuprobieren. Kreativ sein, positiv sein und die Fähigkeit, von anderen zu lernen und auch lernen zu vollen, das wünsche ich mir.

Das ist ein Plädoyer für einen Kulturwandel in den Führungsetagen...

Thies: Ja, den brauchen wir dringend. Es geht aber noch darüber hinaus. Wir sprechen nicht nur über Tarifverträge und Arbeitszeitorganisation, sondern am Ende über eine große Vision für ein geiles deutsches Gesundheitswesen. Wie wollen wir mit unseren Mitarbeitenden umgehen? Welche Qualität von Medizin erwarten wir uns in der Zukunft? Und zwar losgelöst von Versorgungsstrukturen. Was will ich als Versicherter als Versorgung und medizinische Qualität bekommen? Wir haben in Deutschland ein großes Potenzial. Nur müssen wir uns alle selbstkritisch fragen, was wir dazu mit unserem ewigen Gejammer und Gemotze zu einer positiven Entwicklung beigetragen haben.

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