
Dr. Reinhard Wichels ist Gründer und Geschäftsführer des Beratungsunternehmens WMC Healthcare GmbH.
Unsere Nachbarn starren argwöhnisch auf niedrige Hospitalisierungs- und Mortalitätsraten und fragen sich, was sie von uns lernen können. Selbst unsere Ärzte, Politiker, Krankenhausmanager und auch Bürger, die schon jetzt keine Lust mehr auf Quarantäne haben, spekulieren über die Ursachen. Unsere Patienten sind statistisch deutlich jünger. Sie haben sich – ganz sportlich- im Skiurlaub infiziert: Im Schnitt sind sie keine 50 Jahre alt, während in Italien, Spanien und Frankreich das Durchschnittsalter deutlich über 60 Jahre liegt. Wir testen auch mehr als die umliegenden Nachbarn. Und wir haben mehr Intensivkapazitäten; absolut und verfügbar. In Summe eine beeindruckende Kombination.
Aber die freien Zimmer, unausgelasteten Funktionsbereiche und wartenden Teams bringen die Geschäftsführer langsam in ein Dilemma, wie eine Stichprobe aus 165 Krankenhäusern mit insgesamt 80 000 Betten, davon rund 7500 in den Intensivbereichen, bestätigt:
- Die Häuser sind nach Einstellen der elektiven Leistungen nur noch zu rund 55 Prozent ausgelastet.
- Das Aufkommen in den Notaufnahmen ist drastisch zurückgegangen, im Schnitt um 40 und in Einzelfällen bis zu 80 Prozent. Auch die Aufnahmequoten haben sich halbiert; es werden nur noch dringliche Notfälle stationär aufgenommen.
- Die Intensivstationen sind durchschnittlich zu rund 60 Prozent belegt, aber nur in 12 Prozent der verfügbaren - und damit in 20 Prozent der belegten – Intensivbetten befinden sich Patienten mit einer positiven COVID-Diagnose.
Damit wird auch faktisch klar, was alle fühlen: Noch nie hatten wir so viele freie Betten wie heute. Viele Häuser nutzen diese Zeit produktiv und rüsten sich weiterhin für plötzliches, explosives Fallwachstum. Noch mehr Ausweich-Kapazitäten werden geschaffen, Ärzte und Pflegepersonal geschult. Aber auch Ungeduld macht sich breit. Die Geschäftsführungen fangen an, in Szenarien zu denken: „Wenn nicht bald mehr Fälle kommen, nehmen wir auch Patienten aus dem Ausland auf, die Anfragen haben wir täglich“, sagt einer. „Oder wir fangen wieder an zu operieren.“ Und hat dabei den Interpretationsspielraum im Kopf, den es rund um die Notwendigkeit eines elektiven Eingriffs gibt.
Die Gedanken lassen sich nachvollziehen. Aber es ist ein Spiel mit dem Feuer. Jetzt heißt es Nerven bewahren. Und den Blick immer wieder ins nahe gelegene Ausland richten. Dort kämpft man am Limit, um möglichst viele Menschenleben zu retten, jongliert zwischen Betten- und Personalmangel und verzweifelt am exorbitanten Mangel an Schutzmaterial. Es ist noch nicht Zeit für Entwarnung, vielmehr gilt es auf Sicht zu navigieren und den Planungshorizont in der „1-2-4-Regel“ auf wenige Parameter zu reduzieren:
- Planungszeitraum 1 Woche: Planen Sie die freien Bettenkapazitäten auf Wochenbasis. In transparenter Zusammenarbeit mit den benachbarten Häusern und mit Hilfe inzwischen erhältlicher regionaler Prognoseinstrumente kann eine gewisse Planungssicherheit erreicht werden.
- Planungszeitraum 2 Wochen: Die Personalplanung basiert auf den nächsten beiden Wochen. Man muss damit rechnen, dass in der Hochphase der Pandemie bis zu 30 Prozent des eingesetzten Personalstamms ausfallen. Die Gründe sind vielfältig und häufig nicht vermeidbar: Erkrankungen, Erschöpfung, emotionale Überforderung. Zur Sicherstellung der Versorgung müssen die Planungszyklen verkürzt werden. In den meisten Häusern trifft ein solcher Schritt auch bei den Personalvertretungen auf Verständnis.
- Planungszeitraum 4 Wochen: Legen Sie beim Materialbedarf eine Reichweite von einem Monat zu Grunde. Die Versorgungslage bei der Schutzausrüstung ist weiterhin unsicher. Zuletzt haben die USA erhebliche Mengen mit deutlichen Preisaufschlägen und politischem Nachdruck in ihre Richtung gelenkt. Dabei muss bei vielen Produkten, insbesondere Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln, mit einer Verzehnfachung (!) des üblichen Bedarfs gerechnet werden.
Geringere Hospitalisierungsrate. Eine geringere Sterblichkeit. Wir alle hoffen, dass unsere Zahlen wirklich einen Trend markieren und nicht nur einen verzögerten Hochlauf. Wissen tun wir das aber nicht. Daher bleiben wir in Alarmbereitschaft. „Better safe than sorry“, sagen die Amerikaner. Und in dem Punkt haben sie Recht.
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